Ammers keuchte und drehte den Kopf weg. Über seinem filzigen Haar stand an der Holzwand eine Inschrift mit Blaustift:»Eugen Mayer 1941 Typhus.
Rächt -«
»Wie ist es mit ihm?« fragte 509 Berger.
»Er müßte schon längst tot sein. Aber heute ist, glaube ich, wirklich sein letzter Tag.«
»Es sieht so aus. Er verwechselt bereits alles.«
»Er verwechselt nichts«, erklärte Lebenthal. »Er weiß, was er redet.«
»Ich hoffe nicht«, sagte Bucher.
509 sah ihn an. »Er war einmal anders, Bucher«, sagte er ruhig. »Aber man hat ihn zerschlagen. Er ist nichts mehr von dem, was er einmal war. Das da ist ein anderer Mensch, der aus Resten und Fetzen von früher zusammengewachsen ist. Und die Fetzen waren nicht heil. Ich habe es gesehen.«
»Einen Priester«, jammerte Ammers wieder. »Ich muß beichten! Ich will nicht in die ewige Verdammnis!« 509 setzte sich auf den Bettrand. Neben Ammers lag ein Mann des neuen Transports, der hohes Fieber hatte und flach und rasch atmete. »Du kannst das ohne Priester, Ammers«, sagte 509. »Was hast du schon getan? Hier gibt es keine Sünden. Nicht für uns. Wir büßen alles gleich ab. Bereue, was du zu bereuen hat. Wenn keine Beichte möglich ist, ist das genug. So steht es im Katechismus.«
Ammers hörte einen Moment auf zu keuchen. »Bist du auch katholisch?« fragte er.
»Ja«, sagte 509. Es war nicht wahr.
»Dann weißt du es doch! Ich muß einen Priester haben! Ich muß beichten und kommunizieren! Ich will nicht in Ewigkeit brennen!« Ammers zitterte. Seine Augen waren weit aufgerissen. Sein Gesicht war nicht mehr als zwei Fäuste, und die Augen waren viel zu groß dafür. Er hatte dadurch etwas von einer Fledermaus. »Wenn du Katholik bist, weißt du, wie es ist. Wie das Krematorium; aber man verbrennt nie und stirbt nie. Willst du, daß das mit mir passiert?« 509 sah zur Tür. Sie war offen. Ein klarer Abendhimmel stand darin wie ein Bild.
Dann sah er zurück auf den abgezehrten Kopf, in dem die Bilder der Hölle brannten.
»Für uns hier ist das anders, Ammers!« sagte er schließlich. »Wir haben drüben eine Vorzugsstellung. Ein Stück Hölle haben wir ja schon hier gehabt.«
Ammers bewegte ruhelos den Kopf. »Versündige dich nicht«, flüsterte er. Dann hob er sich mühsam auf, starrte um sich und brach plötzlich aus:»Ihr! Ihr! Ihr seid gesund! Und ich muß abkratzen! Gerade jetzt! Ja, lacht! Lacht! Ich habe alles gehört, was ihr gesagt habt! Ihr wollt 'raus!
Ihr kommt 'raus! Und ich? Ich! Ins Krematorium! Ins Feuer! Die Augen! Und ewig – huh – huh -«
Er heulte wie ein mondsüchtiger Hund. Sein Körper war straff hochgezogen, und er heulte. Sein Mund war ein schwarzes Loch, aus dem es heiser heulte.
Sulzbacher erhob sich. »Ich gehe«, sagte er. »Ich will nach einem Priester fragen -«
»Wo?« fragte Lebenthal.
»Irgendwo. Auf der Schreibstube. Bei der Wache -«
»Sei nicht verrückt. Hier gibt es keine Priester. Die SS duldet das nicht. Sie wird dich in den Bunker stecken.«
»Das macht nichts.«
Lebenthal starrte Sulzbacher an. »Berger, 509«, sagte er dann. »Habt ihr das gehört?«
Sulzbachers Gesicht war sehr blaß. Seine Kinnbacken traten stark heraus. Er sah niemand an. »Es nützt nichts«, sagte Berger zu ihm. »Es ist verboten. Wir wissen auch keinen unter den Gefangenen.
Meinst du, wir hätten ihn sonst nicht schon geholt?«
»Ich gehe«, erwiderte Sulzbacher.
»Selbstmord!« Lebenthal griff sich in die Haare. »Und noch für einen Antisemiten!«
Sulzbachers Kiefer arbeiteten. »Gut, für einen Antisemiten.«
»Meschugge! Wieder einer meschugge!«
»Gut, meschugge, ich gehe.«
»Bucher, Berger, Rosen«, sagte 509 ruhig.
Bucher stand bereits mit einem Knüppel hinter Sulzbacher. Er schlug ihm auf den Kopf. Der Schlag war nicht besonders stark, aber er genügte, um Sulzbacher taumeln zu lassen. Alle zerrten ihn jetzt herunter und rollten sich über ihn. »Gib die Bänder vom Schäferhund, Ahasver«, sagte Berger.
Sie banden die Hände und Füße Sulzbachers und ließen ihn los. »Wenn du schreist, müssen wir dir was in den Mund stecken«, sagte 509.
»Ihr versteht mich nicht -«
»Doch. Du bleibst so, bis dein Koller vorbei ist. Wir haben schon genug Leute so verloren -«
Sie schoben ihn in eine Ecke und kümmerten sich nicht mehr um ihn. Rosen richtete sich auf. »Er ist noch durcheinander«, murmelte er, als müsse er für ihn um Entschuldigung bitten. »Ihr müßt das verstehen. Sein Bruder damals -«
Ammers war heiser geworden. Er flüsterte nur noch. »Wo bleibt er?
Wo – der Priester -«
Sie hatten allmählich alle genug. »Ist wirklich kein Priester oder Küster oder Meßdiener in den Baracken?« fragte Bucher. »Irgendeiner, damit er Ruhe gibt.«
»Es waren vier in siebzehn. Einer ist entlassen worden; zwei sind tot; der andere ist im Bunker«, sagte Lebenthal. »Breuer verprügelt ihn jeden Morgen mit einer Kette. Er nennt das: die Messe mit ihm lesen.«
»Bitte -« flüsterte Ammers weiter. »Um Christi willen – einen -«
»Ich glaube, in B ist ein Mann, der Lateinisch kann«, sagte Ahasver. »Ich habe mal davon gehört.
Kann man den nicht nehmen?«
»Wie heißt er?«