Angella hatte Fieber. Ihre Stirn glühte, und ihre Gedanken begannen sich jetzt immer öfter zu verwirren, auf Wegen zu wandeln, auf die sie keinen Einfluß mehr hatte. Manchmal schrak sie hoch und spürte, daß Zeit vergangen war, sehr viel Zeit, ohne daß sie sich auch nur an eine einzige Sekunde erinnern konnte. Sie wußte längst nicht mehr, wann sie das letzte Mal Licht gesehen hatte – oder gegessen oder getrunken. Sie wußte nur, daß man sie sterben lassen wollte. Ewige Nacht umgab sie, eine Dunkelheit, die in nicht mehr allzu ferner Zukunft in die Schwärze des Todes übergehen würde. Vielleicht wäre es weniger schlimm gewesen, wäre sie nicht gefesselt. Aber sie war es, ebenso wie Hrhon, dessen Stöhnen von Zeit zu Zeit durch die Dunkelheit drang und das einzige Geräusch war, das ihr vemet, daß sie noch lebte. Ihre Handgelenke steckten in eisernen Ringen, die mit einer kurzen Kette am Boden befestigt waren, so daß ihr gerade genug Platz blieb, sich von Zeit zu Zeit zu bewegen und ihren wundgelegenen Rücken zu entlasten; oder sich wenigstens einzureden, es zu tun.
Wie lange lag sie schon hier? Tage? Sie wußte es nicht, und je mehr sie versuchte, sich zu erinnern, desto stärker wurde die Verwirrung. Sie hatte Fieber, Hunger, und Durst vor allem. Sie wußte nichts mehr, außer diesen beiden Tatsachen: Daß sie Hunger und Durst hatte und sterben würde. Und daß man sie offensichtlich hierhergebracht hatte, um sie elend zugrunde gehen zu lassen.
Während des ersten Tages – nein, verbesserte sie sich in Gedanken: eigentlich nur während der ersten Stunden – hatte man dem Waga und ihr zu essen und zu trinken gebracht, aber schon nach der zweiten Mahlzeit war die Tür verschlossen geblieben; und sie hatte sich auch nicht mehr geöffnet, bis jetzt. Kurz darauf hatte sie geglaubt, Lärm zu hören: Schreie und dumpfe Explosionen, das helle Peitschen von Lasern und die spitzen Pfeiflaute kämpfender Hornköpfe. Irgend etwas war sogar gegen die Tür ihrer Zelle gepoltert. Aber sehr bald darauf war wieder Ruhe eingekehrt.
Angella hatte die Möglichkeit sehr lange erwogen, daß es im Berg zu einem Kampf gekommen sein könnte, in dessen Verlauf man sie und Hrhon einfach vergessen hatte. Aber so verlockend der Gedanke war – er konnte nicht richtig sein. Wogegen sollten sie kämpfen? Es gab niemanden, der stark genug gewesen wäre, ihnen die Stirn zu bieten, erst recht nicht hier, in diesem verfluchen Berg. Es gab ja nicht einmal jemanden, der närrisch genug gewesen wäre, es zu versuchen, ausgenommen vielleicht Idioten wie sie selbst oder Tally, die Eine dumpfe Wut ergriff von Angella Besitz, als sie an Tally dachte. Wut auf sie, aber auch auf sich selbst, daß sie nicht auf ihre innere Stimme gehört und ihr die Kehle durchgeschnitten hatte, als noch Zeit dazu war. Jetzt war es zu spät. Der Tod hatte bereits bei ihr angeklopft; mehr noch – er hatte bereits einen Fuß in der Tür, und Angella war nicht sicher, daß sie sie noch einmal zuschlagen konnte. Der dumpfe Druck, die Fieberphantasien und die Vision waren Anzeichen des beginnenden Deliriums, und sie wehrte sich nicht einmal mehr dagegen. Ganz im Gegenteil – sie sehnte es herbei, denn egal wie schrecklich es sein mochte, es wäre zu Ende, danach.
Wahrscheinlich wäre sie längst gestorben, wäre da nicht dieser Riß in der Decke über ihr gewesen, durch den von Zeit zu Zeit Wasser floß, wenige, bitter schmeckende Tropfen, die wie durch Zufall genau auf ihr Gesicht fielen, so daß sie immer wieder Lippen und Zunge damit benetzen konnte. Angella war sich des Umstandes vollkommen bewußt, daß sie ihre Qual dadurch nur verlängerte – aber der Durst war stärker als das bißchen Vernunft, das ihr geblieben war. Jedesmal, wenn die Tropfen auf ihr Gesicht fielen, leckte sie sie gierig auf; obgleich jeder einzelne davon nicht die Rettung, sondern nur eine weitere Stunde voller entsetzlicher Pein bedeutete.
Wieder glaubte sie diese Geräusche zu hören; näher diesmal, gleichzeitig undeutlicher, als gäbe es da einen Filter, der sich zwischen die Wirklichkeit und sie geschoben hatte. Ihre Sinne begannen sich stärker und stärker zu verwirren: für einen Moment glaubte sie Tallys Stimme zu hören, dann gar sie selbst zu sehen, aber es war nicht Tally, sonder etwas ganz anderes, ein entsetzliches Ungeheuer, das nur in Tallys Körper geschlüpft war, und...
Der Gedanke entglitt ihr, bevor sie ihn zu Ende denken konnte. Die Vision wurde stärker. Sie glaubte Licht zu sehen, ein wunderschönes, sanftes Licht, das ihren Augen aber weh tat, weil sie so lange nichts als Dunkelheit gesehen hatte. Dann glitt sie wieder hinein in den schwarzen Abgrund, der sich dort aufgetan hatte, wo ihre Gedanken sein sollten. Das nächste, was sie wahrnahm, war die Berührung sanfter Hände, die irgend etwas mit ihrem Gesicht taten. Es schmerzte; gleichzeitig tat es unglaublich gut.