Doch bald wurde ihm klar, daß es schneller gehen würde. Nachdem er einmal begonnen hatte, drangen die Ideen mit ungekannter Wucht an. Er schlief wenig, besuchte die Universität nicht mehr, aß nur das Nötigste und fuhr selten zu seiner Mutter. Wenn er halblaut redend durch die Straßen ging, fühlte er sich wacher denn je. Ohne hinzusehen, wich er den Leuten aus, nie stolperte er, einmal sprang er grundlos zur Seite und war nicht einmal überrascht, als in derselben Sekunde neben ihm ein Dachziegel zerschellte. Die Zahlen entführten einen nicht aus der Wirklichkeit, sie brachten sie näher heran, machten sie klarer und deutlich wie nie.
Die Zahlen begleiteten ihn jetzt immer. Er vergaß sie nicht einmal, wenn er die Huren besuchte. Es gab nicht viele in Göttingen, sie kannten ihn alle, grüßten ihn mit Namen und gaben ihm manchmal Rabatt, weil er jung war, gut aussah und Manieren hatte. Die ihm am besten gefiel, hieß Nina und stammte aus einer fernen sibirischen Stadt. Sie wohnte im alten Accouchierhaus, hatte dunkle Haare, tiefe Grübchen auf den Wangen und breite, nach Erde duftende Schultern; in den Augenblicken, wenn er sie umfaßte, den Blick zur Decke wandte und ihr Schaukeln auf sich spürte, versprach er ihr, sie zu heiraten und ihre Sprache zu lernen. Sie lachte über ihn, und wenn er schwor, daß er es ernst meine, antwortete sie nur, er sei eben noch sehr jung.
Seine Doktoratsprüfung fand unter Aufsicht von Professor Pfaff statt. Auf sein gekritzeltes Ansuchen hin erließ man ihm das mündliche Examen, es wäre auch zu lächerlich gewesen. Als er seine Urkunde abholte, muß- te er auf dem Gang warten. Er aß ein Stück trockenen Kuchen und las in den
Dieser Mann, sagte er, beeindruckend! Aber unsinnig auch, als wäre die Wahrheit irgendwo und nicht hier. Oder als könnte man vor sich selbst davonlaufen.
Pfaff reichte ihm zögernd die Urkunde: Bestanden,
Das habe er in der Tat, sagte Gauß, und wenn es vollendet sei, werde er gehen.
Die beiden Professoren wechselten einen Blick. Aus dem Kurfürstentum Hannover? Das wolle man doch nicht hoffen.
Nein, sagte Gauß, keine Sorge. Sehr weit, aber doch nicht aus dem Kurfürstentum Hannover.
Die Arbeit ging schnell voran. Das quadratische Reziprozitätsgesetz war abgeleitet, das Rätsel der Primzahlenfrequenz seiner Auflösung näher. Die ersten drei Sektionen hatte er beendet, er war schon beim Hauptteil. Aber immer wieder legte er die Feder weg, stützte den Kopf in die Hände und fragte sich, ob das, was er tat, überhaupt erlaubt war. Drang er nicht zu tief ein? Auf dem Grund der Physik waren Regeln, auf dem Grund der Regeln Gesetze, auf deren Grund Zahlen; wenn man diese scharf ins Auge faßte, erkannte man Verwandtschaften zwischen ihnen, Abstoßungen oder Anziehung. Einiges an ihrem Gefüge schien unvollständig, seltsam flüchtig entworfen, und nicht nur einmal glaubte er, notdürftig kaschierten Fehlern zu begegnen – als hätte Gott sich Nachlässigkeiten erlaubt und gehofft, keiner würde sie bemerken.
Dann kam der Tag, an dem er kein Geld mehr hatte. Da er nicht mehr studierte, war sein Stipendium abgelaufen. Dem Herzog hatte es nie gefallen, daß er nach Göttingen gegangen war, an eine Verlängerung war nicht zu denken.
Da gebe es Abhilfe, sagte Zimmermann. Ein Gelegenheitsauftrag: Man brauche einen tüchtigen jungen Mann, der bei der Landvermessung helfe.
Gauß schüttelte den Kopf.
Es dauere nicht lange, sagte Zimmermann. Und frische Luft habe noch keinem geschadet.