inspizierte die Verschalung der Stollen, beklopfte den
Stein, unterhielt sich mit den Vorstehern. Mit seiner
Atemmaske und der Grubenlampe sah er aus wie ein Dä
mon. Wo immer er auftauchte, fielen die Arbeiter auf die
Knie und riefen Gott um Hilfe an. Mehrmals mußten die
Vorarbeiter ihn vor Steinwürfen schützen.
Am meisten faszinierte ihn die Findigkeit der Arbeiter
beim Diebstahl. Keiner durfte in den Förderkorb, bevor
man ihn auf das genaueste untersucht hatte. Dennoch
fanden sie immer wieder Wege, um Erzstücke mitzunehmen. Humboldt fragte, ob er sich der Wissenschaft
halber an der Leibesvisitation beteiligen dürfe. Er fand
Silberklumpen im Haar, in den Achselhöhlen, in den
Mündern und selbst im Anus der Männer. Derlei Arbeit
widerstrebe ihm, sagte er zum Bergwerksleiter, einem gewissen Don Fernando García Utilla, der ihm träumerisch
zusah, wie er den Bauchnabel eines kleinen Jungen betastete; allein, die Wissenschaft und die Staatswohlfahrt
verlangten es. Ein geregeltes Ausbeuten der Schätze der
tiefen Erde sei nicht denkbar, wenn man nicht den Einzelnteressen der Arbeitenden entgegenwirke. Er wiederholte den Satz, damit Gomez mitschreiben konnte. Außerdem sei es ratsam, die Anlagen zu erneuern. Es gebe zu
viele Unfälle.
Man habe genug Leute, sagte Don Fernando. Wer
sterbe, könne ersetzt werden.
Humboldt fragte ihn, ob er Kant gelesen habe. Ein wenig, sagte Don Fernando. Aber er habe Einwände gehabt, Leibniz liege ihm mehr. Er habe deutsche
Vorfahren, deshalb kenne er all diese schönen Phantastereien.
Am Tag ihrer Weiterreise standen zwei Fesselballons
rund und leuchtend neben der Sonne. Das sei jetzt Mode,
erklärte Gomez, jeder Mann von Stand und Mut wolle
einmal mitfliegen.
Vor Jahren habe er den ersten Ballon über Deutschland gesehen, sagte Humboldt. Glücklich, wer damals
geflogen sei. Als es gerade kein Wunder mehr gewesen sei
und noch nichts Irdisches. Wie die Entdeckung eines
neuen Sterns.
Bei Cuernavaca sprach sie ein junger Nordamerikaner
an. Er hatte einen raffiniert gezwirbelten Bart, hieß Wilson und schrieb für den
Das sei ihm jetzt zuviel, sagte Humboldt.
Natürlich stünden die Vereinigten Staaten im Schatten des großen Nachbarn, sagte Wilson. Doch auch ihr
junges Staatswesen habe eine Öffentlichkeit, die mit
wachsendem Interesse die Taten von General Humboldt
verfolge.
Bergwerksassessor, sagte Humboldt, um Bonpland zuvorzukommen. Nicht General!
Vor der Hauptstadt legte Humboldt Galauniform an.
Eine Delegation des Vizekönigs erwartete sie mit dem
Stadtschlüssel auf einer Anhöhe. Seit Paris waren sie in
keiner Metropole dieser Größe gewesen. Es gab eine
Universität, eine öffentliche Bücherei, einen botanischen
Garten, eine Akademie der Künste und eine Bergbauakademie nach preußischem Vorbild unter der Leitung
von Humboldts ehemaligem Freiberger Mitschüler Andres del Rio. Über das Wiedersehen schien der sich nicht
mehr als nötig zu freuen. Er legte Humboldt die Hände
auf die Schultern, hielt ihn auf Armeslänge von sich und
betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. Also sei es wahr, sagte er in gebrochenem Deutsch.
Trotz allen Geredes.
Welchen Geredes? Seit der Begegnung mit Brombacher hatte Humboldt nicht mehr seine Muttersprache
verwendet. Sein Deutsch klang hölzern und unsicher,
immer wieder mußte er nach Worten suchen.
Gerüchte, sagte Andres. Etwa, daß er ein Spion der
Vereinigten Staaten sei. Oder einer der Spanier. Humboldt lachte. Ein spanischer Spion in der spanischen Kolonie?
Aber ja, sagte Andres. Lange werde man nicht mehr
Kolonie sein. Drüben wisse man das, und hier wisse man
es erst recht.
Nahe dem Hauptplatz hatte man begonnen, die Reste
des von Cortés zerstörten Tempels auszugraben. Im
Schatten der Kathedrale standen gähnende Arbeiter, der
stechende Geruch von Maisfladen hing in der Luft. Auf
dem Boden lagen Knochenschädel mit Edelsteinaugen,
Dutzende Obsidianmesser, kunstvoll in Stein geritzte Bilder menschlicher Schlachtungen, kleine Tonfiguren mit offenem Brustkotb. Da war auch ein Steinaltar aus grob gehauenen Totenköpfen. Der Maisgeruch störte Humboldt, ihm war nicht wohl. Als er sich umdrehte, sah
er Wilson und Gomez mit ihren Notizblöcken.
Er bat sie, ihn allein zu lassen, er müsse sich konzentrieren.
So arbeite ein großer Forscher, sagte Wilson.
Allein sein, um sich zu konzentrieren, sagte Gomez.
Das solle die Welt erfahren!
Humboldt stand vor einem riesigen Rad aus Stein. Ein
Gewirbel aus Echsen, Schlangenköpfen und in geometrische Splitter zerbrochenen Menschenfiguren. In der Mitte
ein Gesicht mit herausgestreckter Zunge und lidlosen Augen. Er sah lange hin. Allmählich ordnete sich das Chaos;
er erkannte Entsprechungen, Bilder, die einander ergänzten, Symbole, die, nach feinen Gesetzmäßigkeiten wiederholt, Zahlen verschlüsselten. Das hier war ein Kalender.
Er versuchte ihn abzuzeichnen, aber es gelang nicht, und
das hatte irgend etwas mit dem Gesicht in der Mitte zu
tun. Er fragte sich, wo er diesem Blick schon begegnet war.