Читаем Die Vermessung der Welt полностью

Der Jaguar fiel ihm ein, dann der Junge in der Lehmhütte. Beunruhigt sah er auf seinen Block. Er würde hierfür

einen professionellen Zeichner brauchen. Er starrte in das

Gesicht, und es lag wohl an der Hitze oder am Maisgeruch, daß er sich auf einmal abwenden mußte.

Zwanzigtausend, sagte ein Arbeiter vergnügt. Zur

Einweihung des Tempels seien zwanzigtausend Menschen

geopfert worden. Einer nach dem anderen: Herz raus,

Kopf ab. Die Reihen der Wartenden hätten bis zum Rand

der Stadt gereicht.

Guter Mann, sagte Humboldt. Reden Sie keinen Un

sinn!

Der Arbeiter sah ihn beleidigt an.

Zwanzigtausend an einem Ort und Tag, das sei undenkbar. Die Opfer würden es nicht dulden. Die Zuschauer würden es nicht dulden. Ja mehr noch: Die

Ordnung der Welt vertrüge derlei nicht. Wenn so etwas

wirklich geschähe, würde das Universum enden.

Dem Universum, sagte der Arbeiter, sei das scheiß-

egal.

Am Abend aß Humboldt beim Vizekönig. Andres

del Rio und mehrere Mitglieder der Regierung waren

gekommen, ein Museumsdirektor, einige Offiziere und

ein kleiner, schweigsamer Herr mit dunkler Hautfarbe

und außergewöhnlich eleganter Kleidung: der Conde

de Moctezuma, Ururenkel des letzten Gottkönigs und

Grande des spanischen Reichs. Er bewohnte ein Schloß

in Kastilien und wat geschäftehalber für ein paar Mo-nate in der Kolonie. Seine Frau, eine großgewachsene

Schönheit, sah Humboldt mit unverhohlenem Interesse

an.

Zwanzigtausend sei schon richtig, sagte der Vizekönig.

Vielleicht auch mehr, die Schätzungen gingen auseinander. Unter Tlacaelel, dem letzten Hohepriester, sei das

Reich ganz dem Blut verfallen.

Nicht daß das Hohepriesterdasein wünschenswert gewesen sei, sagte Andres. Man habe sich selbst regelmäßig

verstümmeln müssen. Beispielsweise habe man, er bitte

die Damen um Verzeihung, zu wichtigen Festen seinem

Gemächt Blut abgezapft.

Humboldt räusperte sich und begann von Goethe zu sprechen, auch von seinem älteren Bruder und deren gemeinsamem Interesse für die Sprachen alter Völker. Diese hielten sie für eine Art besseres Latein, reiner und näher am Ursprung der Welt. Er frage sich, ob das auch

fürs Aztekische zutreffe.

Der Vizekönig sah fragend den Conde an.

Er könne keine Auskunft geben, sagte der, ohne von

seinem Teller aufzuschauen. Er spreche nur Spanisch. Um das Thema zu wechseln, fragte der Vizekönig

Humboldt nach seiner Meinung über die Silberminen. Ineffektiv, sagte Humboldt geistesabwesend, überall

Dilettantismus und Stümperei. Er schloß einen Moment

die Augen, sofort erschien das Steingesicht vor ihm. Etwas hatte ihn gesehen, das spürte er, und würde ihn nicht

mehr vergessen. Nur der gewaltige Überschuß von Silber,

hörte er sich sagen, erlaube die Vortäuschung von Effizienz. Die Mittel seien überholt, die Diebstahlsquote sei

enorm, das Personal ungenügend ausgebildet.

Einige Sekunden war es still. Der Vizekönig warf dem

blaß gewordenen Andres del Rio einen Blick zu.

Das sei natürlich übertrieben formuliert, sagte Humboldt, erschrocken über sich selbst. Vieles habe ihn beeindruckt!

Der Conde sah ihn schwach lächelnd an.

Neuspanien brauche einen fähigen Bergwerksminister,

sagte der Vizekönig.

Humboldt fragte, an wen er da denke.

Der Vizekönig schwieg.

Unmöglich, sagte Humboldt und hob die Hände. Er

sei Preuße, er könne nicht für ein anderes Land Dienst

tun.

Erst später am Abend brachte er es fertig, ein paar

Worte mit dem Conde zu wechseln. Leise fragte er ihn,

was er über ein riesiges Kalenderrad aus Stein wisse. Etwa fünf Ellen im Radius?

Humboldt nickte.

Mit gefiederten Schlangen, ein starres Gesicht im Mittelpunkt?

Ja, rief Humboldt.

Darüber wisse er nicht das geringste, sagte der Conde.

Er sei kein Indianer, sondern spanischer Grande. Humboldt fragte, ob es keine Familienüberlieferung

gebe.

Der Conde richtete sich zu seiner vollen Höhe auf und

reichte nun bis zu Humboldts Brust. Sein Vorfahr habe

sich von Cortés kidnappen lassen. Er habe um sein Leben gefleht wie eine Frau, habe gejammert und geweint

und schließlich, nach Wochen der Gefangenschaft, die

Seiten gewechselt. Es seien Azteken gewesen, die ihn mit

Steinwürfen getötet hätten, Wenn er, der Conde de Moctezuma, jetzt auf den Hauptplatz ginge, er würde keine

fünf Minuten leben. Der Conde überlegte. Vielleicht,

sagte er dann, würde auch gar nichts passieren. Alles sei

lange her, die Menschen erinnerten sich kaum noch. Er

faßte den Ellenbogen seiner Frau und blickte mit schmalen Augen an Humboldt hinauf. Wer immer ihn treffe,

forsche in seinem Gesicht nach einem Abglanz der Züge

des Gottkönigs. Jeder, der seinen Namen erfahre, blicke

durch ihn hindurch in die Vergangenheit. Ob Humboldt

sich vorstellen könne, wie es sei, das Leben als Schatten

eines großen Verwandten zu fuhren?

Manchmal könne er das, antwortete Humboldt. Familienüberlieferung, wiederholte der Conde abfäl-

lig. Er und seine Frau gingen ohne Gruß.

Früh am Morgen bemerkte Humboldt, daß Bonpland

nicht da war. Sofort machte er sich auf die Suche. Die

Straßen waren voller Händler: Ein Mann verkaufte getrocknete Früchte, ein zweiter Wundermittel gegen alle

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