»Nein«, sagte ich,»ich will nichts verraten. Aber ich wollte, es ginge uns nicht immer alles in die Brüche.«
Ferdinand beugte sich vor. Sein großes, wildes Gesicht zuckte.»Dafür gehörst du einem Orden an, Bruder – dem Orden der Erfolglosen, Untüchtigen, mit ihren Wünschen ohne Ziel, ihrer Sehnsucht, die nichts einbringt, ihrer Liebe ohne Zukunft, ihrer Verzweiflung ohne Vernunft.«Er lächelte.»Der geheimen Brüderschaft, die lieber verkommt, als daß sie Karriere macht, die das Leben lieber verspielt, zerbröckelt, verliert, als daß sie das unerreichbare Bild betriebsam verfälscht oder vergißt – das Bild, Bruder, das sie im Herzen trägt, unverlöschlich eingegraben in den Stunden und Tagen und Nächten, wo es nichts gab als das eine: das nackte Leben und das nackte Sterben.«
Er hob sein Glas und winkte Fred an der Bar.»Gib mir zu trinken.«
Fred brachte die Flasche.»Soll ich noch etwas Grammophon spielen?«fragte er.
»Nein«, sagte Lenz.»Wirf dein Grammophon 'raus und bring größere Gläser. Und dann mach die Hälfte von dem Licht aus, stell ein paar Flaschen her und verschwinde in deinem Büro nebenan.«
Fred nickte und knipste die Deckenbeleuchtung aus. Nur noch die kleinen Lampen mit den Pergamentschirmen aus alten Landkarten brannten. Lenz füllte die Gläser.»Prost, Kinder! Weil wir leben! Weil wir atmen! Weil wir das Leben so stark empfinden, daß wir nichts mehr damit anzufangen wissen!«
»So ist es«, sagte Ferdinand.»Nur der Unglückliche kennt das Glück. Der Glückliche ist ein Mannequin des Lebensgefühls. Er führt es nur vor; er besitzt es nicht. Licht leuchtet nicht im Licht; es leuchtet im Dunkel. Prost auf das Dunkel! Wer einmal im Gewitter gewesen ist, kann mit einer Elektrisiermaschine nichts mehr anfangen. Verflucht sei das Gewitter! Gesegnet sei unser bißchen Leben! Und weil wir es lieben, wollen wir es nicht auf Zinsen legen! Wir wollen es kaputtmachen! Trinkt, Kinder! Es gibt Sterne, die jede Nacht noch leuchten, obwohl sie schon vor zehntausend Lichtjahren zerplatzt sind! Trinkt, solange es noch Zeit ist! Es lebe das Unglück! Es lebe das Dunkel!«
Er schenkte sich ein Wasserglas voll Kognak ein und trank es aus.
Der Rum klopfte hinter meiner Stirn. Ich stand leise auf und ging zu Fred ins Büro. Er schlief. Ich weckte ihn und ließ eine Verbindung mit dem Sanatorium anmelden.
»Sie können drauf warten«, sagte er.»Um diese Zeit geht das rasch.«
Fünf Minuten später klingelte das Telefon, und das Sanatorium meldete sich.»Ich möchte mit Fräulein Hollmann sprechen«, sagte ich.
»Einen Augenblick, ich verbinde mit der Station.«
Die Oberschwester meldete sich.»Fräulein Hollmann schläft schon.«
»Hat sie kein Telefon im Zimmer?«
»Nein.«
»Können Sie sie nicht wecken?«
Die Stimme zögerte.»Nein. Sie soll heute auch nicht aufstehen.«
»Ist etwas passiert?«
»Nein. Sie muß nur die nächsten Tage im Bett bleiben.«
»Ist bestimmt nichts passiert?«
»Nein, nein, das ist immer so im Anfang. Sie muß im Bett bleiben und sich erst gewöhnen.«
Ich hängte ab.»Schon zu spät, was?«fragte Fred.
»Wie meinst du das?«
Er zeigte mir seine Uhr.»Es geht schon auf zwölf.«
»Ja«, sagte ich.»Hätte gar nicht anrufen sollen.«
Ich ging zurück und trank weiter.
Um zwei Uhr brachen wir auf. Lenz brachte Valentin und Ferdinand mit dem Taxi nach Hause.»Komm«, sagte Köster zu mir und ließ Karls Motor an.
»Ich kann die paar Schritte schon zu Fuß gehen, Otto.«
Er sah mich an.»Wir fahren noch etwas 'raus.«
»Gut.«Ich stieg ein.
»Fahr du«, sagte Köster.
»Unsinn, Otto. Ich kann nicht fahren, ich bin betrunken.«
»Fahr schon! Auf meine Verantwortung.«
»Du wirst es sehen«, sagte ich und setzte mich ans Steuer.
Der Motor röhrte. Das Steuerrad zitterte in meiner Hand. Die Straßen schaukelten an mir vorüber, die Häuser schwankten, und die Laternen standen schräg im Regen.»Es geht nicht, Otto«, sagte ich.»Ich haue irgendwo gegen.«
»Hau dagegen«, erwiderte er.
Ich sah ihn an. Sein Gesicht war klar, gespannt und beherrscht. Er blickte auf die Straße vor uns. Ich drückte den Rücken gegen die Sitzlehne und faßte das Steuerrad fester. Ich biß die Zähne aufeinander und kniff die Augen zusammen. Langsam wurde die Straße deutlicher.
»Wohin, Otto?«fragte ich.
»Weiter 'raus.«
Wir erreichten die Ausfallstraße, die aus der Stadt führte, und kamen auf die Chaussee.»Große Scheinwerfer«, sagte Köster.
Die Betonstraße leuchtete hellgrau vor uns auf. Es regnete nur noch wenig, aber die Tropfen schlugen mir wie Hagelkörner ins Gesicht. Der Wind kam in schweren Stößen, die Wolken hingen niedrig, dicht über dem Walde waren sie zerrissen und Silber tropfte hindurch. Der Nebel hinter meinen Augen verflog. Das Brausen des Motors schlug durch meine Arme in meinen Körper. Ich spürte die Maschine und ihre Kraft. Die Explosionen der Zylinder erschütterten die dumpfe Starrheit meines Schädels. Die Kolben hämmerten wie Pumpen durch mein Blut. Ich griff zu. Der Wagen schoß die Landstraße entlang.
»Schneller«, sagte Köster.