„So weit vom Dorf war ich noch nie”, sagte Pat. „Ist das die Straße nach Hause?”
„Ja.”
Sie schwieg und sah hinunter. Dann stieg sie aus und hielt die Hand schützend vor die Augen. So starrte sie nach Norden, als könne sie schon die Türme der Stadt sehen. „Wie weit ist es?” fragte sie.
„So an tausend Kilometer. Im Mai fahren wir hinunter. Dann holt Otto uns ab.”
„Im Mai”, wiederholte sie. „Mein Gott, im Mai.”
Die Sonne versank langsam. Das Tal wurde lebendig; die Schatten, die bisher starr in den Bodenfalten gehockt hatten, begannen lautlos hervorzuhuschen und höher zu klettern wie blaue Riesenspinnen. Es wurde kühl.
„Wir müssen zurück, Pat”, sagte ich.
Sie blickte auf und ihr Gesicht war plötzlich wie zerfallen vor Schmerz. Ich sah auf einmal, dass sie alles wusste. Sie wusste, dass sie nie mehr über diese gnadenlose Bergkette am Horizont hinwegkommen würde, sie wusste es und wollte es verbergen, so wie wir es vor ihr verbergen wollten, aber einen Augenblick lang verlor sie die Fassung und aller Jammer der Welt brach aus ihren Augen. „Lasst uns noch ein Stück hinunterfahren”, sagte sie. „Nur ein ganz kleines Stück abwärts.”
„Komm”, erwiderte ich, nachdem ich Köster angesehen hatte. Sie stieg zu mir hinten in den Wagen, ich bettete sie in meinen Arm und zog die Decke über uns beide. Der Wagen begann langsam bergab zu fahren, in das Tal und in die Schatten.
„Robby, Liebling”, flüsterte Pat an meiner Schulter, „jetzt ist es, als ob wir nach Hause führen, zurück in unser Leben – ”
„Ja”, sagte ich und zog die Decke bis an ihr Haar. Es wurde rasch dunkler, je tiefer wir kamen. Pat lag ganz unter den Decken. Sie schob ihre Hand auf meine Brust, unter das Hemd, ich fühlte ihre Hand auf meiner Haut, und dann ihren Atem, ihre Lippen und dann ihre Tränen.
Vorsichtig, damit sie die Kurve nicht merkte, drehte Köster auf dem Marktplatz des nächsten Dorfes den Wagen in einer langen Schleife und fuhr langsam zurück.
Die Sonne war verschwunden, als wir die Höhe wieder überfuhren, und im Osten stand schon blass und klar zwischen aufsteigenden Wolken der Mond. Wir fuhren zurück, die Ketten malmten über den Boden mit monotonem Geräusch, es wurde sehr still, ich saß reglos und rührte mich nicht und fühlte die Tränen Pats auf meinem Herzen, als blute dort eine Wunde.
Eine Stunde später saß ich in der Halle. Pat war in ihrem Zimmer und Köster war zur Wetterstelle gegangen, um sich zu erkundigen, ob es Schnee gäbe. Es war draußen dunstig geworden, der Mond hatte jetzt einen Hof und weich und grau wie Samt stand der Abend vor den Fenstern. Nach einer Weile kam Antonio und setzte sich zu mir.
Ein Trupp junger Leute lief kichernd durch die Halle. Antonio lachte.
„Die kommen von der Post. Sie haben an Roth ein Telegramm geschickt.”
„Wer ist Roth?”
„Das ist der, der nächstens abreist. Sie haben ihm telegraphiert, er dürfe wegen einer Grippeepidemie in seiner Heimat nicht abfahren und müsse noch hierbleiben. Das sind so übliche Scherze. Weil sie selbst hierbleiben müssen, verstehen Sie?”
Ich schaute durch das Fenster auf den grauen Samt der verhangenen Berge. Das ist ja alles nicht wahr, dachte ich, das ist ja alles keine Wirklichkeit, so geht das doch nicht. Das ist doch nur eine Bühne hier, auf der ein bisschen Tod gespielt wird. Wenn man stirbt, das ist doch furchtbarer Ernst. So kann man doch nicht sterben, mit etwas Fieber und rauhem Atem, dazu gehören doch Schüsse und Wunden, so kenne ich es doch – ”
„Sind Sie auch krank?” fragte ich Antonio.
„Natürlich”, sagte er lächelnd.
Köster kam von der Wetterdienststelle zurück. „Ich muss fahren, Robby”, sagte er. „Das Barometer ist gefallen und wahrscheinlich gibt es diese Nacht Schnee. Dann komme ich morgen nicht mehr durch. Heute abend gehts grade noch.
„Gut. Essen wir noch mitsammen?”
„Ja. Ich packe jetzt rasch.”
„Ich komme mit”, sagte ich.
Wir packten Kösters Sachen zusammen und brachten sie zur Garage hinunter. Dann gingen wir zurück, um Pat zu holen.
„Wenn irgendwas ist, ruf mich an, Robby”, sagte Otto.
Ich nickte.
„Das Geld hast du in wenigen Tagen hier. Genug für einige Zeit. Tu alles, was nötig ist.”
„Ja, Otto.” Ich zögerte. „Wir haben doch noch ein paar Ampullen Morphium zu Hause. Kannst du mir die schicken?”
Er sah mich an. „Wozu willst du sie haben?”
„Ich weiß nicht, wie das hier wird. Vielleicht ist es nicht nötig. Ich habe immer noch so eine Hoffnung, trotz allem. Immer, wenn ich sie sehe. Wenn ich allein bin, nicht. Aber ich möchte nicht, dass sie leidet, Otto. Dass sie so herumliegt und dass nichts mehr da ist, als Schmerzen. Vielleicht geben sie es ihr hier dann auch so. Aber es ist mir eine Beruhigung, zu wissen, dass ich ihr helfen kann.”
„Nur das, Robby?” fragte Köster.
„Nur das, Otto. Bestimmt. Sonst würde ich es dir nicht sagen.”
Er nickte. „Wir sind nur noch zwei”, sagte er langsam.
„Ja.”
„Gut, Robby.”
Wir gingen in die Halle und ich holte Pat herunter. Dann aßen wir rasch, denn es bezog sich immer mehr. Köster fuhr Karl aus der Garage zum Portal vor. „Machs gut, Robby”, sagte er.
„Du auch, Otto.”