„Herr Lohkamp”, erklärte die Schwester. „Er darf nicht raus, damit er Sie nicht ansteckt.”
Pat sah ungläubig von der Schwester zu mir. Ich zeigte ihr die Medikamente durch die Tür. Sie begriff, dass es stimmte und begann zu lachen, immer mehr, sie lachte, bis ihr die Tränen kamen und sie schmerzhaft zu husten anfing, so dass die Schwester hinlaufen und sie stützen musste. „Mein Gott, Liebling”, flüsterte sie, „das ist zu komisch. Und wie stolz du aussiehst!” Sie war den ganzen Abend fröhlich. Ich ließ sie natürlich nicht allein, sondern saß in einem dicken Mantel, einen Schal um den Hals, bis Mitternacht auf dem Balkon, eine Zigarre in der einen und ein Glas in der andern Hand, eine Kognakflasche zu meinen Füßen, und erzählte ihr Geschichten aus meinem Leben, immer wieder von ihrem leisen Vogelgelächter unterbrochen und angetrieben, ich log, was ich konnte, um das Lachen über ihr Gesicht gleiten zu sehen, ich war glücklich über meinen bellenden Husten und trank die Flasche leer und war am nächsten Morgen gesund.
Der Föhn kam wieder. Der Wind rüttelte an den Fenstern, die Wolken hingen tief, der Schnee schob sich zusammen und polterte durch die Nächte und die Kranken lagen gereizt und aufgepeitscht wach und horchten hinaus. An den geschützten Hängen fingen die Krokusse an zu blühen und auf der Straße erschienen zwischen den Schlitten die ersten Wagen mit hohen Rädern.
Pat wurde immer schwächer. Sie konnte nicht mehr aufstehen. In den Nächten hatte sie oft Erstickungsanfälle. Dann wurde sie grau vor Todesangst. Ich hielt ihre nassen, kraftlosen Hände. „Nur diese Stunde überstehen!” keuchte sie, „nur diese Stunde, Robby. Da sterben sie – ”
Sie hatte Angst vor der letzten Stunde zwischen Nacht und Morgen. Sie glaubte, dass mit dem Ende der Nacht der geheime Strom des Lebens schwächer würde und fast erlosch, – und nur vor dieser Stunde hatte sie Furcht und wollte nicht allein sein. Sonst war sie so tapfer, dass ich oft die Zähne zusammenbeißen musste.
Ich ließ mein Bett in ihr Zimmer stellen und setzte mich zu ihr, wenn sie erwachte und wenn in ihre Augen das verzweifelte Flehen kam. Ich dachte oft an die Morphiumampullen in meinem Koffer und ich hätte es ohne Nachdenken getan, wenn sie nicht so dankbar für jeden neuen Tag gewesen wäre.
Ich saß bei ihr am Bett und erzählte ihr, was mir gerade einfiel. Sie durfte nicht viel sprechen und sie hörte gern zu, wenn ich ihr erzählte, was mir alles schon so passiert war. Am liebsten hörte sie Geschichten aus meiner Schulzeit und manchmal, wenn sie kurz vorher noch einen Anfall gehabt hatte und blass und zerschlagen in den Kissen saß, verlangte sie schon wieder, dass ich ihr irgendeine Type von meinen Lehrern vormachte. Fuchtelnd und schnaufend, einen imaginären roten Vollbart streichend, wanderte ich dann durchs Zimmer und gab mit knarrender Stimme Kathederblüten von mir. Ich erfand täglich neue hinzu und Pat wusste allmählich unter den Raufbolden und Lümmeln unserer Klasse, die den Lehrern immer neuen Ärger bereitet hatten, sehr gut Bescheid. Einmal kam die Nachtschwester dazu, angelockt durch den polternden Bass unseres Rektors, und es dauerte eine ganze Weile, ehe ich ihr zum Vergnügen Pats klargemacht hatte, dass ich nicht verrückt geworden sei, weil ich mitten in der Nacht in einer Pelerine und einem Schlapphut im Zimmer herumhopste und einem gewissen Karl Ossege furchtbar die Leviten las[192]
, der heimtückisch das Katheder angesägt hatte.Langsam sickerte dann das Tageslicht durch das Fenster. Die Bergrücken wurden messerscharfe, schwarze Silhouetten[193]
. Der Himmel hinter ihnen fing an, kalt und blass zurückzuweichen. Die Nachttischlampe verrostete zu bleichem Gelb und Pat legte ihr feuchtes Gesicht in meine Hände. „Es ist vorbei, Robby. Jetzt habe ich wieder einen Tag dazu.”Antonio brachte mir seinen Radioapparat. Ich schloss ihn an die Lichtleitung und die Heizung an und probierte ihn abends bei Pat aus. Er quarrte und quakte, dann löste sich plötzlich aus dem Schnarren eine zarte, klare Musik.
„Was ist das, Liebling?” fragte Pat.
Antonio hatte mir eine Radiozeitschrift mitgegeben. Ich schlug nach. „Rom, glaube ich.”
Da kam auch schon die tiefe, metallische Stimme der Ansagerin. „Radio Roma – Napoli – Firenze – ”[194]
Ich drehte weiter. Ein Klaviersolo. „Da brauche ich gar nicht nachzuschlagen”, sagte ich. „Das ist die Waldsteinsonate von Beethoven. Die habe ich auch mal spielen können in den Zeiten, als ich noch glaubte, irgendwann mal Studienrat, Professor oder Komponist zu werden. Jetzt kann ich sie längst nicht mehr. Wollen lieber weiter drehen. Sind keine schönen Erinnerungen.”
„Prag. Streichquartett[195]
, Opus 59 zwei, Beethoven”, las ich vor.Ich wartete, bis der Satz zu Ende war, dann drehte ich weiter, und auf einmal war eine Geige da, eine wunderbare Geige. „Das wird Budapest sein, Pat. Zigeunermusik.”