Читаем Gertrud / Гертруда. Книга для чтения на немецком языке полностью

»Sie brauchen ihn vielleicht nicht«, fing sie nochmals an, »Sie haben andere Freunde. Aber wenn wir jemand sehen, der leidet und im Leiden ungebärdig ist, so sollen wir ihn schonen und ihm etwas zugute halten.«

Ja, dachte ich, das sollte man, und allmählich, wie das Gehen in der Nacht mich kühlte, lag zwar die eigene Wunde noch offen und rief nach Hilfe, aber mehr und mehr musste ich den Worten der Marion und meinen Dummheiten von heut abend nachdenken, mich als einen traurigen Hund erkennen und in der Stille Abbitte tun. Es ergriff mich, da der Weinmut verflogen war, eine unangenehme Rührung, mit der ich abwehrend kämpfte, ohne mehr viel zu der schönen Frau zu sagen, die nun selber erregt und ungewissen Herzens neben mir durch die halbdunklen Straßen lief, wo da und dort in der toten, schwarzen Fläche plötzlich ein Laternenspiegel aus dem nassen Boden aufblickte. Ich dachte daran, dass ich meine Geige bei Muoth hatte liegenlassen; und zwischenein erwachte ich wieder zum Erstaunen und Schrecken über alles. Da war diesen Abend so vieles anders geworden. Dieser Heinrich Muoth und der Violinist Kranzl, und wieder die herrliche Marion, die Königinnen spielte, die waren alle von ihren Sockeln herabgestiegen[39]. An ihren olympischen Tischen saßen nicht Götter und Selige, sondern arme Menschen, der eine klein und komisch, der andere bedrückt und eitel, Muoth elend und fieberhaft in törichter Selbstquälerei, die hohe Frau klein und arm als Geliebte eines stürmenden Genießers ohne Heiterkeit, dabei still und gütig und des Leidens kundig. Ich selber schien mir verändert, war nicht mehr ein einfacher Mensch, sondern war allen verwandt, hatte an jedem brüderliche und an jedem feindliche Züge gesehen, konnte hier nicht lieben und dort nicht verabscheuen, sondern schämte mich meines wenigen Verstehens und spürte zum erstenmal in meiner leichten Jugend so deutlich, dass man durchs Leben und durch die Menschen nicht so einfach gehen könne, da mit Hass und da mit Liebe, da mit Verehrung und dort mit Verachtung, sondern dass alles durcheinander und beieinander wohne, kaum getrennt und in Augenblicken kaum unterschiedbar. Ich sah die Frau an, die an meiner Seite ging und nun auch ganz still geworden war, als fände sie im Herzen nun doch auch manches anders beschaffen, als sie es gemeint und gesagt hatte.

Am Ende kamen wir vor ihr Haus, sie streckte mir die Hand her, die ich leise nahm und küsste. »Schlafen Sie gut!« sagte sie freundlich, aber ohne Lächeln.

Das tat ich auch, ich kam nach Hause und ins Bett, ich weiß nicht wie, und schlief sofort und schlief noch ein ungewohntes Stück in den Morgen hinein. Dann stand ich auf wie das Männlein aus der Schachtel, machte meine Turnübung, wusch mich und griff nach den Kleidern; und erst wie ich am Stuhl den Gehrock hängen sah und meinen Geigenkasten vermisste, fiel mir gestern wieder ein. Ich war indes ausgeschlafen und anderen Sinnes als in der Nacht, und konnte an die Gedanken der Nacht nicht anknüpfen; es blieb mir nur die Erinnerung an sonderbar kleine, nur nach innen wirksame Erlebnisse und ein Erstaunen darüber, dass ich nun doch unverwandelt und derselbe wie immer dastand.

Ich wollte arbeiten, aber meine Geige war nicht da. So ging ich aus, anfangs noch unentschlossen, dann entschieden in der gestrigen Richtung, und kam an Muoths Wohnung. Schon vom Gartentor aus hörte ich ihn singen, der Hund fiel mich an und ward von der alten Frau, die schnell herauskam, mit Mühe zurückgeführt. Mich ließ sie eintreten, ich sagte ihr, ich wollte nur meine Geige holen und den Herrn nicht stören. Im Vorzimmer stand mein Geigenkasten, und die Geige lag darin, auch die Noten waren dazugelegt. Das musste Muoth getan haben, er hatte an mich gedacht. Nebenher sang er laut, ich hörte ihn weich wie auf Filzsohlen hin und wider gehen, zuweilen Töne am Flügel anschlagend. Seine Stimme klang frisch und hell, beherrschter, als ich sie oft auf der Bühne gehört hatte, er sang eine mir unbekannte Rolle, wiederholte häufig und ging rasch im Zimmer auf und ab.

Ich hatte meine Sachen an mich genommen und wollte gehen. Ich war ruhig und fühlte mich von der Erinnerung an gestern kaum berührt. Doch war ich neugierig, ihn zu sehen, ob er sich verändert habe, und trat näher, und ohne es ganz zu wollen, hatte ich auf einmal den Türgriff in der Hand, und hatte darauf gedrückt, und stand in der offenen Tür.

Muoth drehte sich im Singen um. Er war im Hemde, in einem sehr langen, weißen, feinen Hemd, und sah frisch aus, als habe er eben gebadet. Ich erschrak nun, zu spät, dass ich ihn so überrascht habe. Er schien jedoch weder verwundert, dass ich ohne Klopfen eingetreten war, noch schien er zu wissen, dass er keine Kleider anhatte. Als wäre alles, wie es sein müsse, bot er mir die Hand und fragte: »Haben Sie schon gefrühstückt?« Dann, da ich ja gesagt hatte, nahm er am Flügel Platz.

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Джеймс Джойс – великий ирландский писатель, классик и одновременно разрушитель классики с ее канонами, человек, которому более, чем кому-либо, обязаны своим рождением новые литературные школы и направления XX века. В историю мировой литературы он вошел как автор романа «Улисс», ставшего одной из величайших книг за всю историю литературы. В настоящем томе представлена вся проза писателя, предшествующая этому великому роману, в лучших на сегодняшний день переводах: сборник рассказов «Дублинцы», роман «Портрет художника в юности», а также так называемая «виртуальная» проза Джойса, ранние пробы пера будущего гения, не опубликованные при жизни произведения, таящие в себе семена грядущих шедевров. Книга станет прекрасным подарком для всех ценителей творчества Джеймса Джойса.

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