Von da an sah ich Muoth oft, er sandte mir häufig Billette für die Oper, bat mich manchmal, bei ihm zu geigen, und wenn mir nicht alles an ihm gefiel, so ließ er sich doch auch von mir nicht wenig gefallen. Es entstand eine Freundschafft, damals meine einzige, und ich begann mich beinahe auf die Zeit zu fürchten, wo er nicht mehr da sein würde. Er hatte wirklich gekündigt und ließ sich, trotz einiger Bemühungen und Zugeständnisse, nicht halten. Zuweilen deutete er an, er werde im Herbst vielleicht einen Ruf an eine große Bühne haben, doch blieb das vorläufig unbesprochen. Inzwischen kam der Frühling heran.
Eines Tages fand ich mich zum letzten Herrenabend bei Muoth ein, wir stießen auf Wiedersehen und Zukunft an, es war diesmal keine Frau dabei. Muoth begleitete uns in der Morgenfrühe an die Gartenpforte, winkte uns nach und kehrte fröstelnd im Morgennebel in seine schon halb ausgeräumte Wohnung zurück, von dem springenden und bellenden Hund begleitet. Mir aber schien ein Stück Leben und Erfahrung nun abgetan; ich glaube Muoth genug zu kennen, um sicher zu sein, dass er uns alle bald vergessen werde, und erst jetzt fühlte ich ganz klar und unbeirrt, dass ich den dunklen, launischen, herrischen Mann doch richtig lieb hatte.
Indessen kam auch für mich der Abschied. Ich tat meine letzten Gänge nach Orten und Menschen, die ich in gutem Gedächtnis zu behalten gesonnen war; ich ging auch noch einmal auf den Höhenweg hinauf und schaute den Hang hinunter, den ich ohnehin nicht vergessen hätte.
Und ich reiste ab, nach Hause, einer unbekannten und wahrscheinlich langweiligen Zukunft entgegen. Eine Stellung hatte ich nicht, selbstständig Konzerte geben konnte ich nicht, in der Heimat erwarteten mich nur, zu meinem Schrecken, einige Schüler, denen ich Violinstunden geben sollte. Wohl erwarteten mich auch die Eltern, und sie waren reich genug, dass ich ohne Sorgen sein konnte, auch fein und gütig genug, dass sie mich nicht drängten und fragten, was nun aus mir werden solle. Aber dass ich es hier nicht lange aushalten würde, wusste ich von Anfang an.
Von den zehn Monaten, in denen ich nun zu Hause saß, drei Schülern Stunden gab und trotz allem gar nicht unglücklich war, weiß ich nichts zu erzählen. Es lebten auch hier Menschen, es geschah auch hier täglich irgend etwas, aber mein Verhältnis zu alledem bestand nur in einer freundlich höflichen Gleichgültigkeit. Nichts ging mir ans Herz, nichts nahm mich mit. Dagegen lebte ich in aller Stille entrückte, seltsame Stunden der Musik, wo mein ganzes Leben erstarrt und mir entfremdet schien und nur ein Hunger nach Musik übrigblieb, der mich während der Violinstunden oft unerträglich peinigte und gewiss zu einem bösen Lehrer machte. Nachher aber, wenn meine Pflicht getan war oder ich mit List und Lüge mich um meine Stunden gedrückt hatte, sank ich tief in herrlich unwirkliche Träume, baute nachtwandlerisch an kühnen Tongebäuden, trieb freche Türme in die Lüfte[44]
, wölbte tiefschattende Kuppeln und ließ spielende Ornamente leicht und genussvoll wie Seifenblasen steigen.Während ich in einer Betäubung und Fremdheit herumging, die meine früheren Bekannten vertrieb und meinen Eltern Sorge machte, ging noch weit heftiger und reicher als vor einem Jahr in den Bergen der verschüttete Born in mir wieder auf; die Früchte verträumter, verarbeiteter, scheinbar verlorener Jahre, unsichtbar gereift, fielen still und sachte, eine um die andere, und hatten Duft und Glanz und umgaben mich mit einem fast schmerzlichen Reichtum, den ich nur zögernd und mit Misstrauen an mich nahm. Es begann mit einem Liede, dem folgte eine Geigenphantasie, der folgte ein Streichquartett, und als in wenigen Monaten noch einige Lieder und manche Entwürfe zu symphonischen Sachen dazugekommen waren, empfand ich das alles nur als einen Anfang und Versuch, und im Herzen dachte ich an eine große Symphonie, in den frechsten Stunden auch schon an eine Oper! Zwischenein schrieb ich von Zeit zu Zeit demütige Briefe an Kapellmeister und Theater, legte die Empfehlungen meiner Lehrer bei und brachte mich bescheiden für die nächste bessere Geigerstelle in Erinnerung, die frei werde. Es kamen dann kurze höfliche Antworten, die mit »Sehr geehrter Herr« begannen, manchmal auch keine, aber eine Anstellung kam nicht. Dann war ich einen Tag oder zwei klein und kroch zusammen, gab sorgfältigen Unterricht und schrieb neue demütige Briefe. Allein gleich darauf fiel mir wieder ein, dass ich noch einen Kopf voll Musik aufzuschreiben habe, und kaum hatte ich wieder begonnen, so sanken die Briefe und die Theater und Orchester, die Kapellmeister und sehr geehrte Herren auf Nichtmehrsehen hinab, und ich fand mich allein, vollauf beschäftigt und begnügt.