Pendergast hielt einen Moment lang inne, dann sagte er: »Die Ähnlichkeiten, was den Modus Operandi bei Opfer zwei und drei betrifft, sind auffallend. In beiden Fällen ist der Mörder methodisch, ruhig, absichtsvoll und außergewöhnlich gut vorbereitet vorgegangen. Es ist wahrscheinlich, dass es sich um das Werk ein und desselben Täters handelt.«
»Und der erste Mord?«
»Höchst anormal.«
»Was ist mit dem Motiv?«
»Unklar. Wir konzentrieren uns bei den ersten Morden auf zwei Tatverdächtige mit starken Motiven. Der Tatverdächtige im Mordfall Ozmian kommt nach unseren Vernehmungen nicht infrage. Der zweite Tatverdächtige, ein ehemaliger Angestellter von Sharps & Gund, wird bald verhört werden. Er sieht vielversprechend aus bislang.«
Longstreet schüttelte den Kopf. »Das ist das Merkwürdigste. Die Opfer scheinen so unverbunden zu sein, dass man sich kaum ein verbindendes Motiv vorstellen kann. Was hat ein Mafiaanwalt mit einem russischen Waffenhändler und dieser mit einem verantwortungslosen reichen Mädchen zu tun?«
»Ich würde die Behauptung wagen, dass das augenscheinliche Fehlen eines gemeinsamen Motivs in Wahrheit das Motiv selbst darstellen könnte.«
»Da haben wir’s wieder einmal, Aloysius, du sprichst in Rätseln.«
Statt zu antworten, winkte Pendergast ab.
»Du weichst immer noch meiner Frage aus. Stimmst du mit der Hypothese überein, dass der erste Mord von einer anderen Person verübt wurde als die Morde zwei und drei?«
»Alles dreht sich um die Anomalie der ersten Enthauptung – warum vierundzwanzig Stunden warten? Die anderen beiden Enthauptungen wurden vorgenommen, als die Opfer fast noch im Sterben lagen.«
»Du weichst meiner Frage nach wie vor aus.«
»Ich finde noch etwas anderes interessant. Gleichgültig, wie gewalttätig oder schmutzig die Morde waren, die Enthauptungen wurden mit großer Sorgfalt durchgeführt. Das würde dagegen sprechen, dass der erste Mord von einem anderen Mörder verübt worden ist. Darüber hinaus scheint die erste Leiche – im Gegensatz zu den anderen – ganz bewusst versteckt worden zu sein.«
Longstreet brummte irgendetwas Unverständliches. »Interessant, wie du sagst – aber für sich genommen ohne Beweiskraft.«
»Wir haben es hier mit logischen Dilemmata zu tun. Es könnte sich, wie die Polizei annimmt, um eine Nachahmungssituation handeln, vor allem, weil die Morde zwei und drei mehrere Übereinstimmungen aufweisen und der erste Mord davon abweicht. Ebenso logisch ist allerdings, dass das Zusammentreffen von drei Enthauptungen im Lauf einer Woche stark auf einen einzelnen Mörder hinweist. Wir leiden an einer Knappheit an Beweisen.«
»Du und deine ›Knappheit an Beweisen‹ und ›logischen Dilemmata‹«, sagte Longstreet mürrisch. »Dergleichen hätte beinahe dazu geführt, dass uns dieser Aufklärungstrupp ugandischer Söldner umgelegt hätte – weißt du noch?«
»Und trotzdem sitzen wir heute hier, stimmt’s?«
»Stimmt.« Longstreet streckte den Arm aus und drückte einen Summer auf einer Gegensprechanlage in der Nähe. »Katharine? Bitte bringen Sie Agent Pendergast einen Arnold Palmer.«
21
Anton Ozmian saß in seinem Eckbüro hinter dem riesigen Schreibtisch aus schwarzem Granit und sah aus den nach Süden ausgerichteten Fenstern. Sein Blick ruhte auf den zahllosen Lichtern von Lower Manhattan, die sich im bewölkten Winterhimmel spiegelten.
Er schaute an dem hoch aufragenden Freedom Tower vorbei, vorbei an den Gebäuden des Battery Park und über den New Yorker Hafen in Richtung des dunklen Umrisses von Ellis Island. Dort hatte die Einwanderungsbehörde seine Großeltern, die per Schiff aus dem Libanon gekommen waren, abgefertigt. Ozmian war froh, dass nicht irgendein wichtigtuerischer, fremdenfeindlicher Beamter versucht hatte, den Namen in Oswald oder irgendeinen anderen Blödsinn zu ändern.
Sein Großvater war Uhrmacher und Fachmann für Uhrenreparaturen gewesen, so wie dessen Vater auch. Aber zum Ende des 20. Jahrhunderts starb der Beruf des Uhrmachers nahezu aus. Als Kind hatte Ozmian Stunden in der Werkstatt seines Vaters zugebracht, fasziniert von der Mechanik schöner Uhren – das fabelhafte System aus winzigen Federn, Rädchen und kleinen Drehflügeln, die das unergründliche Geheimnis namens »Zeit« sichtbar machten. Doch als er älter wurde, verlagerte sich Ozmians Interesse hin zu komplexen Systemen einer anderen Art: zu den Befehlsregistern, Akkumulatoren, Programmzählern, Stapelzeigern und anderen Elementen, aus denen Computer bestanden – und zur Assemblersprache, welche alle diese regierte. Dieses System war gar nicht unähnlich einer schönen Schweizer Armbanduhr, insofern das Endziel darin bestand, den größten Nutzen aus der geringsten Menge Energie zu beziehen. Und so funktionierte auch die Programmierung der Assemblersprache – wenn man ein echter Programmierfreak war, strebte man ständig danach, die Größe der Programme zu schrumpfen und jede Zeile Code doppelten oder dreifachen Dienst tun zu lassen.