Um fünf Uhr morgens am 24. Dezember, ungefähr eine Stunde vor Sonnenaufgang, erschien Special Agent Pendergast an der Tür der Wohnung 5B im Gebäude an der 355 West Fourteenth Street. Der einsame Beamte, der den Tatort bewachte – die Spurensicherung hatte ihre Arbeit bereits beendet –, döste auf seinem Stuhl neben der Tür vor sich hin.
»Es tut mir sehr leid, Sie zu belästigen«, fing Pendergast an, während der Mann aufsprang und das Mobiltelefon, das er in der Hand gehalten hatte, auf den Boden fiel.
»Entschuldigen, Sir, aber Sie dürfen –«
»Bitte«, sagte Pendergast besänftigend, zückte seinen FBI-Ausweis und ließ ihn aufklappen. »Bloß ein kurzer Blick – natürlich nur, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Nein«, sagte der Cop, »natürlich nicht, aber sind Sie denn befugt …?« Er schien enttäuscht zu sein, als Pendergast ernst den Kopf schüttelte.
»Um fünf Uhr morgens, mein guter Freund, ist es schwierig, eine Unterschrift zu bekommen. Wenn Sie aber meinen, Sie müssten Lieutenant D’Agosta anrufen, so habe ich dafür selbstverständlich volles Verständnis.«
»Nein, nein, das ist nicht nötig«, sagte der Beamte hastig. »Aber Sie sind doch befugt, in dem Fall zu ermitteln?«
»Natürlich.«
»Nun, dann darf ich Sie wohl durchlassen.«
»Guter Mann.« Pendergast schnitt das Tatortband von der Tür, erbrach das Siegel und betrat die Wohnung, schaltete das Licht an und schloss die Tür leise hinter sich. Er wollte nicht gestört werden.
Er leuchtete mit seiner Taschenlampe in dem erbärmlichen Zimmer herum, drehte sich dabei um die eigene Achse, nahm alles in Augenschein. Der Lichtkegel verharrte auf jedem Poster, bewegte sich dann zu der Ecke voller Waffen auf einem Stück schmutzigen Teppichs, dem Haufen aus Computergeräten, Leiterplatten und alten Kathodenstrahlröhren, die jetzt blutbespritzt waren. Pendergasts Blick wanderte zu einer schlichten Werkbank, zusammengenagelt aus Kiefernholz, die Oberfläche verkratzt und verbrannt. An der Wand dahinter hing Werkzeug. Sein Blick schweifte zum zerwühlten Bett, zur unerwartet sauberen Küchenzeile – und dann zurück zu der Stelle, wo er begonnen hatte.
Jetzt ging er zur Werkbank. Diese stand im Fokus seines Interesses. Er inspizierte sie von links nach rechts, besah sich die kleinste Kleinigkeit im Schein der Taschenlampe und hin und wieder auch mit der Lupe, wobei er von Zeit zu Zeit etwas mit einer Juwelierpinzette aufhob und in ein Teströhrchen steckte. Sein blasses, vom reflektierten Licht der Taschenlampe erhelltes Gesicht schwebte gleich einem körperlosen Geist durch den Raum, die silbrigen Augen funkelten in der Dunkelheit.
Eine Viertelstunde lang setzte er die Untersuchungen fort – bis er plötzlich stutzte. In der Ecke, dort, wo der billige Kieferntisch vor der Wand gestanden hatte, hatte der Lichtschein der Taschenlampe etwas erhellt, was wie große gelbliche Salzkörner aussah. Das erste davon hob er mit den Fingern auf, zerrieb es, betrachtete den weißlichen Staub auf der Fingerspitze, roch daran und schmeckte es schließlich mit der Zungenspitze. Das zweite hob er mit der Pinzette auf und ließ es in einen kleinen Ziplock-Beutel fallen, versiegelte diesen und steckte ihn zurück in die Jackentasche.
Pendergast drehte sich um und verließ die Wohnung. Der diensthabende Polizist, der stur und aufmerksam gewartet hatte, erhob sich von seinem Stuhl. Pendergast umfasste herzlich seine Hand. »Ich danke Ihnen, Officer, für Ihre Hilfe und Ihr Pflichtbewusstsein. Ich werde das bei meinen nächsten Zusammentreffen mit dem Lieutenant sicherlich erwähnen.«
Und damit stieg er so leise und behände wie eine Katze die Treppe hinunter.
25
Fast genau zwölf Stunden nachdem Pendergast Lashers Wohnung verlassen hatte, ging Bryce Harriman unruhig durch seine Zweizimmerwohnung an der Ecke 72. und Madison. Die Wohnung lag in einem umgewandelten Vorkriegsgebäude aus den Dreißigerjahren. Aufgrund der Umwandlung hatte sie einen bizarren Grundriss, der einen regelrechten Rundgang gestattete: vom Wohnzimmer durch die Küche zu der einen Tür des Badezimmers, aus der anderen Tür hinein ins Schlafzimmer und dann vom Schlafzimmer durch einen kurzen, von Schränken gesäumten Flur, der zurück zum Wohnzimmer führte.
Die Zimmer hatten hohe Decken, und das Gebäude verfügte über eine schicke Eingangshalle und einen 24-Stunden-Doorman, aber die Wohnung war mietpreisgebunden und lief unter dem Namen von Harrimans Tante. Wenn sie verstarb, was vermutlich ziemlich bald geschehen würde, würde er ausziehen und sich etwas suchen müssen, was seinem Gehalt eher entsprach. Nur ein weiteres Beispiel für das schwindende Vermögen der Familie Harriman.