Die Frau lachte. »Da kann ich dir was bieten.«
Kern horchte. Er wußte jetzt, wo er war. In einem Stundenhotel. Vorsichtig spähte er zu Ruth hinüber. Sie schien nichts gehört zu haben. »Ruth«, sagte er fast lautlos,»du geliebtes, kleines, müdes Pony… schlaf weiter und wach nicht auf. Das da drüben hat mit uns nichts zu tun. Ich liebe dich und du liebst mich, und wir sind allein…«
»Verdammt!« Ein Klatschen drang durch die dünne Wand. »Das ist Klasse, Donnerwetter noch mal! Wie Stein!«
»Au! Du Schwein! Du bist schon ein tolles Schwein!« johlte die Frau.
»Natürlich! Dachtest du, ich wäre aus Pappe?«
»Wir sind gar nicht hier«, flüsterte Kern. »Ruth, wir sind gar nicht hier. Wir liegen auf einer Wiese in der Sonne, und rund um uns blühen Kamillen und Klatschmohn und Wegerich. Ein Kuckuck ruft, und bunte Schmetterlinge fliegen über dein Gesicht…«
»Andersrum! Laß das Licht an!« quetschte die fette Stimme nebenan.
»Was willst du denn jetzt? Ah!« Die Frau kreischte vor Lachen.
»In einem kleinen Bauernhaus sind wir«, flüsterte Kern. »Es ist Abend, und wir haben saure Milch gegessen und frisches Brot. Die Dämmerung weht über unsere Gesichter, es ist still, wir warten auf die Nacht, wir sind ruhig und wissen, daß wir uns lieben…«
Nebenan begann Radau und Knarren und Schreien.
»Ich lehne den Kopf an deine Knie und fühle deine Hände auf meinem Haar. Du hast keine Angst mehr, du hast einen Paß, und alle Polizisten grüßen unsere Gesichter, es ist still, wir warten auf die Nacht, wir sind ruhig und wissen, daß wir uns lieben… ich…«
Schritte kamen über den Korridor. An der anderen Seite des Zimmers, die bisher ruhig gewesen war, rasselte ein Schlüssel. »Danke«, sagte der Portier,»besten Dank.«
»Was schenkst du mir, Schatz?« fragte eine gelangweilte Stimme.
»Viel habe ich nicht«, erwiderte ein Mann. »Wie wär’s mit einem Fünfziger?«
»Du bist verrückt. Unter hundert mache ich keinen Knopf auf.«
»Aber Kind…« Die Stimme wurde zu einem kehligen Raunen.
»Wir haben Ferien und sind an der See«, sagte Kern leise und eindringlich. »Du hast gebadet und bist im heißen Sande eingeschlafen. Das Meer ist blau, und am Horizont sieht man ein weißes Segel. Die Möwen schreien und der Wind weht…«
Irgend etwas polterte gegen die Wand. Ruth zuckte. »Was ist?« fragte sie schlaftrunken.
»Nichts, nichts! Schlaf, Ruth.«
»Du bist da, ja?«
»Ich bin immer da und liebe dich.«
»Ja, liebe mich…«
Sie schlief wieder ein. »Du bist bei mir und ich bin bei dir, und all der Dreck geht uns nichts an, der Dreck, durch den sie uns jagen«, flüsterte Kern durch den schmutzigen Lärm des Stundenhotels. »Wir sind allein und jung, und unser Schlaf ist rein, Ruth, geliebtes Pony von den blühenden Feldern der Liebe.«
Kern kam aus dem Büro der Flüchtlingshilfe. Er hatte nichts anderes erwartet als das, was er gehört hatte. An eine Aufenthaltserlaubnis war nicht zu denken. An Unterstützungen nur im äußersten Fall. Arbeit mit und ohne Aufenthaltserlaubnis war selbstverständlich verboten.
Kern war nicht besonders niedergeschlagen. Es war in allen Ländern das gleiche. Trotzdem lebten Tausende von Emigranten, die den Gesetzen nach längst verhungert sein mußten.
Er blieb eine Zeitlang im Vorzimmer des Büros stehen. Der Raum war gedrängt voll Menschen. Kern betrachtete sie der Reihe nach genau. Dann ging er auf einen Mann zu, der etwas abseits saß und einen ruhigen, überlegeneren Eindruck machte. »Verzeihen Sie«, sagte er. »Ich möchte Sie etwas fragen. Können Sie mir sagen, wo man wohnen kann, ohne angemeldet zu sein? Ich bin erst seit gestern in Paris.«
»Haben Sie Geld?« fragte der Mann, ohne im geringsten erstaunt zu sein.
»Etwas.«
»Können Sie sechs Francs am Tag für ein Zimmer bezahlen?«
»Vorläufig ja.«
»Dann gehen Sie in das Hotel Verdun in der Rue de Turenne. Sagen Sie der Wirtin, ich schicke sie. Ich heiße Klassmann. Doktor Klassmann«, fügte der Mann mit trübem Spott hinzu.
»Ist das Verdun sicher vor Polizei?«
»Sicher ist nichts. Man füllt Anmeldezettel ohne Datum aus, die nicht zur Polizei gegeben werden. Sollte revidiert werden, sind Sie immer gerade am selben Tage angekommen, und die Zettel sollten am nächsten Morgen zur Polizei geschickt werden, verstehen Sie? Die Hauptsache ist, daß man Sie nicht gerade erwischt. Dafür gibt es einen prima unterirdischen Gang. Sie werden das schon sehen. Das Verdun ist kein Hotel – es ist etwas, was Gott schon vor fünfzig Jahren in weiser Voraussicht für die Emigranten geschaffen hat. Haben Sie Ihre Zeitung schon gelesen?«
»Ja.«
»Dann geben Sie sie mir. Damit sind wir dann quitt.«
»Gut. Danke vielmals.«
Kern ging zu Ruth, die in einem Café an der nächsten Ecke auf ihn gewartet hatte. Sie hatte einen Stadtplan und eine französische Grammatik vor sich. »Hier«, sagte sie,»das habe ich mir in einer Buchhandlung inzwischen gekauft. Billig. Antiquarisch. Ich glaube, es sind die beiden Waffen, die wir brauchen, um Paris zu erobern.«
»Exakt. Wir wollen sie sofort benutzen. Laß uns nachsehen, wo die Rue de Turenne ist.«