»Das stimmt!« erwiderte Kern. »An Museen habe ich allerdings bisher noch nicht gedacht.«
Die Präfektur war ein mächtiger Gebäudekomplex, der um einen großen Hof gelagert war. Klassmann führte Kern durch ein paar Torbögen und Türen in einen großen Saal, der ungefähr aussah wie eine Bahnhofshalle. An den Wänden entlang lief eine Reihe von Schaltern, hinter denen die Angestellten saßen. In der Mitte des Raumes stand eine Anzahl Bänke ohne Lehnen. Einige hundert Menschen saßen herum oder standen in langen Schlangen vor den Schaltern.
»Dies ist der Saal der Auserwählten«, sagte Klassmann. »Es ist beinah das Paradies. Hier sehen Sie Leute, die eine Aufenthaltserlaubnis haben, die sie verlängern lassen müssen.«
Kern spürte die lastende Sorge und den Ernst des Raumes.
»Das ist das Paradies?« fragte er.
»Ja. Sehen Sie!«
Klassmann zeigte auf eine Frau, die den Schalter neben ihnen verließ. Sie starrte mit einem Ausdruck irrsinnigen Entzückens auf einen Ausweis, den die Beamtin ihr gestempelt zurückgegeben hatte. Dann lief sie auf eine Gruppe wartender Menschen zu. »Vier Wochen!« rief sie unterdrückt. »Um vier Wochen verlängert!«
Klassmann wechselte einen Blick mit Kern. »Vier Wochen – das ist heute schon fast ein ganzes Leben, was?«
Kern nickte.
Ein alter Mann stand jetzt vor dem Schalter. »Aber was soll ich denn machen?« fragte er verstört.
Der Beamte erwiderte etwas in rapidem Französisch, das Kern nicht verstand. Der alte Mann hörte ihm zu. »Ja, aber was soll ich denn machen?« fragte er dann zum zweitenmal.
Der Beamte wiederholte seine Erklärung. »Der nächste«, sagte er dann und griff nach den Papieren, die ihm der folgende in der Reihe über den Kopf des alten Mannes hinweg reichte.
Der alte Mann wandte den Kopf. »Ich bin doch noch nicht fertig!« sagte er. »Ich weiß doch nicht, was ich machen soll. Wohin soll ich denn gehen?« fragte er den Beamten.
Der Beamte sagte etwas und beschäftigte sich mit den Papieren des nächsten. Der alte Mann hielt sich am Brett des Schalters fest wie an einer Planke im Meer. »Was soll ich denn tun, wenn Sie mir mein Recepisse nicht verlängern?« fragte er.
Der Beamte kümmerte sich nicht um ihn. Der Mann drehte sich zu den Leuten um, die hinter ihm standen. »Was soll ich denn nur tun?«
Er sah in eine Mauer steinerner, versorgter, gehetzter Gesichter. Niemand antwortete; aber niemand drängte ihn auch fort. Über seinen Kopf weg reichte man die Papiere in das Fenster des Schalters, behutsam bemüht, ihn nicht anzustoßen.
Er wandte sich wieder dem Beamten zu. »Irgend jemand muß mir doch sagen, was ich tun soll!« sagte er leise immer wieder. Er flüsterte nur noch, mit erschrockenen Augen, schon geduckt unter den Armen, die wie Wogen über seinen Kopf hinweg sich zum Schalter bewegten. Seine Hände mit den dick hervorstehenden, krausen Adern klammerten sich noch an das Schalterbrett. Dann schwieg er. Und plötzlich, als erlahme seine Kraft, ließ er die Arme fallen und verließ den Schalter. Die großen, nutzlosen Hände pendelten an seinem Körper herunter wie an Tauen, zusammenhanglos, als wären sie nur zufällig aufgehängt an den Schultern, und der vorgeneigte Kopf schien nichts mehr zu sehen. Aber während er noch völlig verloren dastand, sah Kern das nächste Gesicht vor dem Schalter in Entsetzen erstarren. Dann folgten hastige Gebärden und wieder dieses furchtbare, trostlose Starren, dieses blinde Insichhineinschauen, ob es nicht irgendwo noch irgendeine Rettung gäbe.
»Das ist das Paradies?« sagte Kern.
»Ja«, erwiderte Klassmann. »Dies hier ist schon das Paradies. Viele werden abgelehnt; aber viele bekommen auch ihre Verlängerung.«
Sie gingen durch einige Korridore und kamen in einen Raum, der nicht mehr aussah wie eine Bahnhofshalle, sondern wie ein Wartesaal vierter Klasse. Ein Völkergemisch erfüllte ihn. Die Bänke reichten bei weitem nicht aus. Die Leute standen oder saßen auf dem Boden. Kern sah eine schwere, dunkle Frau wie eine breite, brütende Glucke in einer Ecke auf dem Boden sitzen. Das schwarze Haar war gescheitelt und geflochten. Um sie herum spielten mehrere Kinder. Das kleinste hatte sie an der entblößten Brust. Sie saß unbefangen mit der sonderbaren Hoheit eines gesunden Tieres und dem Recht jeder Mutter in all dem Lärm und hatte nur Augen für ihre Brut, die um ihre Knie und ihren Rücken spielte wie um ein Denkmal.