Neben ihr stand eine Gruppe Juden mit schütteren grauen Bärten, in schwarzen Kaftanen, mit Löckchen. Sie standen und warteten, mit einem Ausdruck so unerschütterlicher Ergebung, als hätten sie schon Hunderte von Jahren gewartet und wüßten, daß sie noch weitere hundert Jahre warten müßten. Auf einer Bank an der Wand saß eine schwangere Frau. Neben ihr ein Mann, der fortwährend nervös seine Hände rieb. Daneben ein Mann mit weißen Haaren, der leise auf eine weinende Frau einsprach. Auf der andern Seite ein junger, pickliger Mensch, der Zigaretten rauchte und hastig wie ein Dieb eine schöne, elegante Frau anstarrte, die ihm gegenübersaß und ihre Handschuhe an-und auszog. Ein Buckliger, der in ein Notizbuch schrieb. Eine Anzahl Rumänen, die zischten wie Dampfkessel. Ein Mann, der Fotografien betrachtete, sie einsteckte, gleich wieder hervorholte, wieder betrachtete und wieder einsteckte. Eine dicke Frau, die in einer italienischen Zeitung las. Ein junges Mädchen, das ohne jeden Anteil dasaß, völlig versunken in seine Traurigkeit.
»Das hier sind alles Leute, die eine Aufenthaltserlaubnis beantragt haben«, sagte Klassmann. »Oder die eine beantragen wollen.«
»Mit was für Papieren ist denn das möglich?«
»Die meisten haben noch gültige oder abgelaufene, nicht erneuerte Pässe. Oder sind auf irgendwelche Ausweise legal eingereist, mit Visum.«
»Dann ist dies hier noch nicht die schlimmste Abteilung?«
»Nein«, sagte Klassmann.
Kern sah, daß außer Beamten auch Mädchen hinter den Schaltern arbeiteten. Sie waren hübsch und adrett angezogen; die meisten trugen helle Blusen und halblange Ärmelschoner darüber aus schwarzem Satin. Es erschien ihm einen Augenblick sonderbar, daß hinter den Schaltern Menschen waren, denen es wichtig war, die Ärmel ihrer Bluse vor etwas Schmutz zu schonen, während vor ihnen sich andere Menschen drängten, deren ganzes Leben im Schmutz versank.
»In den letzten Wochen ist es besonders schlimm hier in der Präfektur«, sagte Klassmann. »Immer, wenn in Deutschland etwas geschieht, was die umliegenden Länder nervös macht, müssen die Emigranten es als erste ausbaden. Sie sind die Sündenböcke für die einen und für die andern.«
Kern sah am Schalter einen Mann mit einem schmalen, geistvollen Gesicht. Seine Papiere schienen in Ordnung zu sein; das junge Mädchen hinter dem Schalter nahm sie nach einigen Fragen, nickte und begann zu schreiben. Aber Kern sah, wie der Mann, während er nur dastand und wartete, zu schwitzen begann. Der große Raum war kalt, und der Mann trug nur einen dünnen Sommeranzug; aber der Schweiß drang ihm aus allen Poren, sein Gesicht wurde glänzend naß, und helle Tropfen flossen ihm über Stirn und Wangen. Er stand unbeweglich, die Arme auf das Schalterbrett gestützt, in einer verbindlichen, nicht einmal unterwürfigen Haltung da, bereit, Antwort zu geben – und sein Wunsch ging in Erfüllung -, und trotzdem war er nichts als Todesschweiß, als würde er auf dem unsichtbaren Rost der Herzlosigkeit gebraten. Hätte er geschrien, lamentiert oder gebettelt, es wäre Kern nicht so schrecklich erschienen. Aber daß er höflich, in guter Haltung, gefaßt dastand und daß nur seine Poren seinen Willen überfluteten, das war, als ob der Mann in sich selbst ertrank. Es war die Not der Kreatur selbst, die alle Dämme des Menschseins zu durchsickern schien.
Die Beamtin gab dem Mann seine Papiere mit einem freundlichen Wort zurück. Er dankte in einem weichen ausgezeichneten Französisch und ging rasch davon. Erst an der Ausgangstür des Saales öffnete er sein Papier, um nachzusehen, was darin stand. Es war nur ein bläulicher Stempel mit ein paar Daten, aber dem Mann schien es auf einmal, als sei es Mai und die Nachtigallen der Freiheit sängen betäubend in dem nüchternen Saal.
»Wollen wir gehen?« fragte Kern.
»Haben Sie genug gesehen?«-»Ja.«
Sie gingen dem Ausgang zu. Aber sie wurden aufgehalten durch eine Schar armseliger Juden, die wie ein Schwarm zerzauster, hungriger Dohlen sie umkreiste.
»Bittäh – helfen…« Der Älteste trat vor mit weiten, fallenden, demütigen Bewegungen. »Wir nicht sprechen französisch – hel – fen – bitte Mensch – Mensch…«
»Mensch – Mensch…«, fielen die andern im Chor ein und flatterten mit ihren weiten Ärmeln. »Mensch – Mensch…«
Es schien fast das einzige Wort Deutsch zu sein, das sie kannten, denn sie wiederholten es ununterbrochen und wiesen dabei mit den gelblichen, abgezehrten Händen auf sich, auf ihre Stirnen, ihre Augen, ihre Herzen, immer wieder in einem weichen, eindringlichen, fast schmeichlerischen Singsang:»Mensch – Mensch…«, und nur der Älteste fügte hinzu:»…auch – Mensch…« Er konnte ein paar Worte mehr.
»Sprechen Sie jiddisch?« fragte Klassmann.
»Nein«, erwiderte Kern. »Nicht ein Wort.«
»Es sind Juden, die nur jiddisch sprechen. Sie sitzen hier Tag für Tag und können sich nicht verständigen. Sie suchen jemand, der ihnen dolmetschen hilft.«
»Jiddisch, jiddisch!« nickte der Älteste eifrig.
»Mensch – Mensch…«, summte der flatternde Chor mit aufgeregten, ausdrucksvollen Gesichtern.