»Ein gutes Gedächtnis ist die Grundlage der Freundschaft – und der Verderb der Liebe«, erwiderte Steiner. »Entschuldigen Sie, Ruth, daß ich mit einer Sentenz eintrete – aber ich habe unten eben meinen alten Bekannten Marill getroffen. Da ist so was unvermeidlich.«
»Wo kommst du her?« fragte Kern. »Direkt aus Wien?«
»Aus Wien. Auf dem Umweg über Murten.«
»Was?« Kern trat einen Schritt zurück. »Über Murten?«
Ruth lachte. »Murten ist der Ort unserer Schmach, Steiner. Ich bin dort krank geworden – und diesen alten Grenzwanderer hat die Polizei erwischt. Ein ruhmloser Name für uns – Murten.«
Steiner schmunzelte. »Deshalb war ich da! Ich habe euch gerächt, Kinder.« Er holte seine Brieftasche hervor und zog sechzig Schweizer Franken heraus. »Hier. Das sind vierzehn Dollar oder etwa dreihundertfünfzig französische Francs. Ein Geschenk Ammers’.«
Kern sah ihn verständnislos an. »Ammers?« sagte er. »Dreihundertfünfzig Francs?«
»Ich erkläre dir das später, Knabe. Steck es ein. Und nun laßt euch mal ansehen!« Er musterte beide. »Hohlwangig, unterernährt, Kakao mit Wasser als Abendbrot – und keinem hier was gesagt, wie?«
»Noch nicht«, erwiderte Kern. »Immer, wenn es nahe daran war, lud Marill uns zum Essen ein. Als hätte er einen sechsten Sinn.«
»Er hat noch einen mehr. Für Bilder. Hat er euch nach dem Essen nicht ins Museum geschleppt? Das ist gewöhnlich die Buße dafür.«
»Ja. Zu Cézanne, van Gogh, Manet, Renoir und Degas«, sagte Ruth.
»Aha! Zu den Impressionisten. Dann habt ihr Mittagessen mit ihm gehabt. Für ein Abendessen schleppt er einen zu Rembrandt, Goya und Greco. Aber nun los, Kinder, anziehen. Die Restaurants der Stadt Paris sind hell erleuchtet und warten auf uns!«
»Wir haben gerade…«
»Das sehe ich!« unterbrach Steiner grimmig. »Zieht euch sofort an! Ich schwimme in Geld.«
»Wir sind fertig angezogen.«
»Ach so! Mantel verkauft an einen Glaubensgenossen, der euch bestimmt beschummelt hat…«
»Nein…«, sagte Ruth.
»Kind, es gibt auch unehrliche Juden! So heilig mir euer Stamm als Märtyrervolk augenblicklich auch ist. Also kommt! Wir wollen das Rassenproblem der Brathühner aufrollen.«
»ALSO JETZT ERZÄHLT, was los ist«, sagte Steiner nach dem Essen. »Es ist wie verhext«, sagte Kern. »Paris ist nicht nur die Stadt der Toilettewasser, der Seifen und Parfüms, es ist auch die Stadt der Sicherheitsnadeln, Schnürsenkel, Knöpfe und anscheinend sogar der Heiligenbilder. Der Handel fällt hier fast ganz aus. Ich habe eine Menge Dinge probiert – Geschirr gewaschen, Obstkörbe geschleppt, Adressen geschrieben, mit Spielzeug gehandelt -, aber es hat noch nichts Rechtes eingebracht. Es blieb immer zufällig. Ruth hat vierzehn Tage lang ein Büro saubergemacht; dann ging die Firma pleite, und sie bekam überhaupt nichts dafür. Für Pullover aus Kaschmirwolle bot man ihr so viel, daß sie gerade die Wolle dafür wieder kaufen konnte. Infolgedessen…«
Er öffnete sein Jackett. »Ich laufe infolgedessen wie ein reicher Amerikaner herum. Wunderbar, wenn man keinen Mantel hat. Vielleicht strickt sie dir auch so einen Pullover, Steiner…«
»Ich habe noch Wolle für einen«, sagte Ruth. »Schwarze allerdings. Mögen Sie schwarz?«
»Und wie! Wir leben ja schwarz.« Steiner zündete sich eine Zigarette an. »Ich sehe schon! Habt ihr eure Mäntel verkauft oder versetzt?«
»Erst versetzt, dann verkauft.«
»Gut. Der natürliche Weg. Wart ihr schon mal im Café Maurice?«
»Nein. Nur im Alsace.«
»Schön. Dann gehen wir mal zum Maurice. Da gibt es Dickmann. Er weiß alles. Auch über Mäntel. Ich will ihn aber noch etwas Wichtigeres fragen. Über die Weltausstellung, die dieses Jahr kommt.«
»Die Weltausstellung?«
»Ja, Baby«, sagte Steiner. »Da soll es nämlich Arbeit geben. Und nach Papieren soll nicht so genau gefragt werden.«
»Wie lange bist du eigentlich schon in Paris, Steiner? Daß du alles weißt?«
»Vier Tage. Ich war vorher in Straßburg. Hatte da etwas zu besorgen. Euch habe ich durch Klassmann gefunden. Traf ihn auf der Präfektur. Ich habe ja einen Paß, Kinder. In ein paar Tagen ziehe ich ins International. Mir gefällt der Name.«
DAS CAFÉ MAURICE glich dem Café Sperler in Wien und dem Café Greif in Zürich. Es war die typische Emigrantenbörse. Steiner bestellte für Ruth und Kern Kaffee und ging dann zu einem älteren Mann hinüber. Beide unterhielten sich eine Zeitlang. Dann blickte der Mann prüfend zu Kern und Ruth hinüber und ging fort.
»Das war Dickmann«, sagte Steiner. »Er weiß alles. Es stimmt mit der Weltausstellung, Kern. Die ausländischen Pavillons werden jetzt gebaut. Das bezahlen die ausländischen Regierungen. Zum Teil bringen sie eigene Arbeiter mit – für die einfachen Sachen aber, Erdarbeiten und so was, engagieren sie die Leute hier. Und da liegt unsere große Chance! Da die Löhne von ausländischen Komitees bezahlt werden, kümmern die Franzosen sich wenig darum, wer da arbeitet. Morgen früh gehen wir hin. Es ist schon eine Anzahl Emigranten beschäftigt. Wir sind billiger als die Franzosen – das ist unser Vorteil.«