Sie gingen zur Geisterbahn. Es war ein Riesenkomplex mit hoch in die Luft gebauten Schienen, über die kleine Wagen voll Gelächter und Geschrei sausten. Vor dem Eingang stauten sich die Menschen. Kern drängte sich durch und zog Ruth hinter sich her. Der Mann an der Kasse sah ihn an. »Hallo, George«, sagte er. »Auch wieder da? Geht hinein!«
Kern öffnete die Tür eines der niedrigen Wagen. »Steig ein!«
Ruth sah ihn überrascht an.
Kern lachte. »Es ist so! Reine Zauberei! Wir brauchen nicht zu bezahlen.«
Sie sausten los. Der Wagen stieg steil empor und stürzte dann in einen finsteren Tunnel. Ein kettenbeladenes Ungeheuer erhob sich wimmernd und griff nach Ruth. Sie schrie auf und drückte sich an Kern. Im nächsten Augenblick öffnete sich ein Grab, und eine Anzahl Skelette rasselte mit ihren Knochen einen monotonen Trauermarsch. Gleich darauf schoß der Wagen aus dem Tunnel heraus, wirbelte durch eine Kurve und stürzte aufs neue in einen Schacht. Ein anderer Wagen raste ihnen entgegen, zwei aneinandergedrückte Menschen saßen darin, die sie erschreckt anstarrten, ein Zusammenstoß schien unvermeidlich – da schleuderte der Wagen durch eine Kurve, das Spiegelbild verschwand, und sie flogen in eine dampfende Höhle, in der feuchte Hände über ihre Gesichter glitten.
Sie überfuhren noch einen letzten, wimmernden Greis, dann kamen sie wieder ans Tageslicht, und der Wagen hielt an. Sie stiegen aus. Ruth strich sich über die Augen. »Wie schön das alles plötzlich ist!« sagte sie und lächelte. »Das Licht, die Luft – daß man atmet und gehen kann…«
»Warst du schon einmal im Flohzirkus?« fragte Kern.
»Nein.«
»Dann komm!«
»Servus, Charlie!« sagte die Frau am Eingang zu Kern. »Ausgehtag heut? Geht hinein! Wir haben gerade Alexander II. drin.«
Kern sah Ruth vergnügt an. »Wieder umsonst!« erklärte er. »Komm!«
Alexander II. war ein ziemlich starker, rötlicher Floh, der zum erstenmal frei vor dem Publikum arbeitete. Der Dompteur war etwas nervös; Alexander II. war bisher nur als vorderes linkes Pferd eines Viererzuges tätig gewesen und hatte ein ungestümes, unberechenbares Temperament. Das Publikum, das mit Ruth und Kern aus fünf Personen bestand, beobachtete ihn gespannt.
Aber Alexander II. arbeitete tadellos. Er ging wie ein Traber; er kletterte und turnte am Trapez, und sogar sein Glanzstück frei an der Balancierstange verrichtete er, ohne auch nur einmal zur Seite zu schielen.
»Bravo, Alfons!« Kern schüttelte dem stolzen Dompteur die zerstochene Hand.
»Danke. Wie hat es Ihnen gefallen, meine Dame?«
»Es war wunderbar.« Ruth schüttelte ihm ebenfalls die Hand. »Ich verstehe nicht, wie Sie das überhaupt fertigbringen.«
»Es ist ganz einfach. Alles Dressur. Und Geduld. Mir hat einmal einer gesagt, man könne sogar Steine dressieren, wenn man genug Geduld hätte.« Der Dompteur machte verschmitzte Augen. »Weißt du, Charlie, bei Alexander II. war ein kleiner Trick dabei. Ich habe das Vieh vor der Vorstellung eine halbe Stunde an der Kanone ziehen lassen. An dem schweren Mörser. Davon ist er müde geworden. Und müde macht willig.«
»An der Kanone?« fragte Ruth. »Haben denn selbst die Flöhe schon Kanonen?«
»Sogar schwere Feldartillerie.« Der Dompteur ließ Alexander II. einen herzhaften Belohnungsbiß an seinem Unterarm tun. »Es ist halt einmal das populärste, meine Dame. Und populär bringt Geld!«
»Sie schießen aber nicht aufeinander«, sagte Kern. »Sie rotten sich nicht aus – darin sind sie vernünftiger als wir.«
Sie gingen zur mechanischen Autorennbahn.
»Grüß dich Gott, Peperl!« heulte der Mann am Eingang, durch das metallene Getöse. »Nehmt Nummer sieben, die rammt gut!«
»Hältst du mich nicht allmählich für den Bürgermeister von Wien?« fragte Kern Ruth.
»Für viel mehr; für den Besitzer des Praters.«
Sie sausten los, stießen mit andern zusammen und waren bald mitten im Wirbel. Kern lachte und ließ das Steuer los; Ruth versuchte ernsthaft, mit zusammengezogenen Augenbrauen, weiter-zulenken. Schließlich ließ sie es, wandte sich an Kern, wie entschuldigend, und lächelte – das seltene Lächeln, das ihr Gesicht erhellte und weich und kindlich machte. Man sah dann plötzlich den roten, vollen Mund und nicht mehr die schweren Augenbrauen.
Sie machten noch die Runde durch ein halbes Dutzend Buden und Etablissements – von den rechnenden Seelöwen bis zum indischen Zukunftsdeuter; nirgendwo brauchten sie etwas zu zahlen. »Du siehst«, sagte Kern stolz,»sie verwechseln zwar meinen Namen überall; aber wir haben freien Eintritt. Das ist die höchste Form der Volkstümlichkeit.«
»Werden wir auch beim großen Riesenrad umsonst ’reingelassen?« fragte Ruth.
»Bestimmt! Als Künstler Direktor Potzlochs. Sogar mit besonderen Ehren. Komm, wir gehen sofort hin.«
»Servus, Schani«, sagte der Mann an der Kasse. »Mit Fräulein Braut?«
Kern nickte, errötete und blickte Ruth nicht an.
Der Mann nahm zwei bunte Postkarten von einem Haufen, der neben ihm lag, und überreichte sie Ruth. Es waren Abbildungen des Riesenrades mit dem Panorama von Wien. »Zur Erinnerung, mein Fräulein.«
»Danke vielmals.«