Er erhob sich. »Wollen Sie es morgen noch einmal mit mir probieren, Herr Steiner?«
»Natürlich. Aber morgen muß es klappen. Sonst kommt uns Potzloch auf den Kopf!«
Goldbach fischte in der Tasche seines Jacketts umher und holte eine in Seidenpapier gewickelte Krawatte hervor. Er hielt sie Steiner hin. »Ich habe Ihnen hier eine Kleinigkeit mitgebracht. Sie haben so viel Mühe mit mir…«
Steiner wehrte ab. »Ausgeschlossen! Das gibt’s bei uns nicht…«
»Sie kostet mich nichts.«
Steiner klopfte Goldbach auf die Schulter. »Bestechungsversuch durch einen Juristen. Was bringt das mehr an Strafe in einem Prozeß?«
Goldbach lächelte schwach. »Das müssen Sie den Staatsanwalt fragen. Einen guten Rechtsanwalt fragt man nur: Was bringt es weniger. Das Strafmaß ist übrigens gleich; nur mildernde Umstände sind ausgeschlossen. Der letzte größere Fall dieser Art war die Affäre Hauer und Konsorten.«
Er belebte sich etwas. »Die Verteidigung damals hatte Freygang. Ein geschickter Mann mit etwas zuviel Freude an Paradoxen. Ein Paradox als Detail ist unschätzbar, weil es verblüfft; nicht aber als Grundlage der Verteidigung. Daran scheiterte Freygang. Er wollte für einen Landgerichtsrat auf mildernde Umstände plädieren wegen…«, er lachte angeregt,»Unkenntnis der Gesetze.«
»Guter Einfall«, sagte Steiner.
»Für einen Witz – nicht für einen Prozeß.«
Goldbach stand da, den Kopf etwas schräggelegt, das Auge plötzlich scharf, die Lider eingekniffen – er war auf einmal nicht mehr der armselige Emigrant und Krawattenhändler, er war wieder Dr. Goldbach II vom Kammergericht, der gefürchtete Tiger im Dschungel der Paragraphen.
SCHNELL, GERADE, AUFGERICHTET, wie lange nicht, ging er die Hauptallee des Praters hinunter. Er sah nichts von der Schwermut der klaren Herbsmacht – er stand wieder im überfüllten Gerichtssaal, seine Notizen vor sich, er war an der Stelle des Rechtsanwalts Freygang, er sah, wie der Staatsanwalt, der seine Anklagerede beendet hatte, sich setzte, er schob seinen Talar zurecht, er stützte die Knöchel der Hände leicht auf, wiegte sich ein wenig wie ein Fechter und begann mit metallener Stimme:»Hoher Gerichtshof – der Angeklagte Hauer…«
Satz folgte auf Satz, kurz und scharf, unanfechtbar in seiner Logik. Er nahm die Motive des Staatsanwaltes auf, eines nach dem andern, er schien der Beweisführung zu folgen, er schien anzuklagen und nicht zu verteidigen, der Saal wurde still, die Richter hoben die Köpfe – aber plötzlich, mit einer virtuosen Wendung, drehte er um, zitierte den Bestechungsparagraphen und beleuchtete in vier harten Fragesätzen seine Zweideutigkeit, um dann, peitschend und rasch, das Entlastungsmaterial zu bringen, das jetzt eine ganz neue Wirkung hatte.
Er stand vor dem Haus, in dem er wohnte. Langsam ging er die Treppe hinauf – immer zögernder, immer langsamer.
»Ist meine Frau schon da?« fragte er das verschlafene Mädchen, das ihm öffnete.
»Sie ist vor einer Viertelstunde gekommen.«
»Danke.« Goldbach ging den Korridor entlang in sein Zimmer. Es war schmal und hatte ein kleines Fenster zum Hof.
Er bürstete sich die Haare. Dann klopfte er an die Zwischentür.
»Ja…«
Die Frau saß vor dem Spiegel und betrachtete aufmerksam ihr Gesicht. Sie wandte sich nicht um. »Was gibt’s?« fragte sie.
»Wie geht es dir, Lena?«
»Wie soll es schon gehen bei dem Leben! Schlecht! Wozu fragst du eigentlich so was?« Die Frau prüfte ihre Augenlider.
»Warst du fort?«
»Ja.«
»Wo warst du?«
»Irgendwo. Ich kann doch nicht den ganzen Tag hier sitzen und die Wände anstarren.«
»Das sollst du ja auch nicht. Ich bin doch froh, wenn du Unterhaltung hast.«
»Na also, dann ist es ja gut.«
Die Frau begann langsam und sorgfältig eine Creme auf ihre Haut zu reiben. Sie sprach mit Goldbach wie mit einem Stück Holz – ohne jede Erregung, mit einer entsetzlichen Gleichgültigkeit. Er stand an der Tür und sah ihr zu – hungrig nach einem guten Wort. Sie hatte eine fleckenlose, rosige Haut, die im Lichte der Lampe schimmerte. Ihr Körper war üppig und weich. »Hast du etwas gefunden?« fragte sie.
Goldbach sank in sich zusammen. »Du weißt doch, Lena – ich habe noch keine Arbeitserlaubnis. Ich war beim Kollegen Höpfner; er kann auch nichts machen. Es dauert alles so furchtbar lange…«
»Ja, es dauert schon zu lange.«
»Ich tue, was ich kann, Lena.«
»Ja, ich weiß. Ich bin müde.«
»Ich gehe schon, gute Nacht.«
Goldbach schloß die Tür. Er wußte nicht, was er tun sollte. Hineinstürzen und sie anflehen, ihn zu verstehen, sie anbetteln, mit ihm zu schlafen, eine Nacht… oder? Er ballte kraftlos die Fäuste. Verprügeln, dachte er, alle Demütigung und alle Beschämung hineinschlagen in dieses rosige Fleisch, einmal sich loslassen, alle Wut, das Zimmer zertrümmern und schlagen, bis dieser gleichmütige, hochmütige Mund schrie und wimmerte und der weiche Körper sich am Boden krümmte.