Glaube an Gott. Verzweifle an ihm. Verwirf alle Philosophie. Lass dir vom Arzt einen Magenkrebs[70] ansagen und wisse: es sind nur noch vier Jahre, und dann ist es aus. Glaub an eine Frau. Verzweifle an ihr. F"uhre ein Leben mit zwei Frauen. St"urze dich in die Welt. Zieh dich von ihr zur"uck…
Und alle diese Lebensgef"uhle hat schon einer vor dir gehabt; so hat schon einer geglaubt, gezweifelt, gelacht, geweint und nachdenklich in der Nase gebohrt, genau so. Es ist immer schon einer da gewesen.
Das "andert nichts, ich weiss. Du erlebst es ja zum ersten Mal. F"ur dich ist es Neuschnee, der da liegt. Es ist aber keiner, und diese Entdeckung ist zuerst sehr schmerzlich. In Polen lebte einmal ein armer Jude, der hatte kein Geld, zu studieren, aber die Mathematik brannte ihm im Gehirn. Er las, was er bekommen konnte, die paar sp"arlichen B"ucher, und er studierte und dachte, dachte f"ur sich weiter. Und erfand eines Tages etwas, er entdeckte es, ein ganz neues System, und er f"uhlte: ich habe etwas gefunden. Und als er seine kleine Stadt verliess und in die Welt hinauskam, da sah er neue B"ucher, und das, was er f"ur sich entdeckt hatte, gab es bereits: es war die Differentialrechnung. Und da starb er. Die Leute sagen: an der Schwindsucht. Aber er ist nicht an der Schwindsucht gestorben.
Am merkw"urdigsten ist das in der Einsamkeit. Dass die Leute im Get"ummel ihre Standard-Erlebnisse haben, das willst du ja gern glauben. Aber wenn man so allein ist wie du, wenn man so meditiert, so den Tod einkalkuliert, sich so zur"uckzieht und so versucht, nach vorn zu seh-en —: dann, sollte man meinen, w"are man auf H"ohen, die noch keines Menschen Fuss je betreten hat[71]. Und immer sind da Spuren, und immer ist einer dagewesen, und immer ist einer noch h"oher geklettert als du es je gekonnt hast, noch viel h"oher.
Das darf dich nicht entmutigen. Klettere, steige, steige. Aber es gibt keine Spitze. Und es gibt keinen Neuschnee.
Zur soziologischen Psychologie der L"ocher
Dass die wichtigsten Dinge durch R"ohren gethan werden. Beweise: erstlich die Zeugungsglieder[72], die Schreibfeder und unser Schiessgewehr.
Ein Loch ist da, wo etwas nicht ist.
Das Loch ist ein ewiger Kompagnon des Nicht-Lochs: Loch allein kommt nicht vor, so leid es mir tut[73]. W"are "uberall etwas, dann g"abe es kein Loch, aber auch keine Philosophie und erst recht keine Religion, als welche aus dem Loch kommt. Die Maus k"onnte nicht leben ohne es, der Mensch auch nicht: es ist beider letzte Rettung, wenn sie von der Materie bedr"angt werden. Loch ist immer gut.
Wenn der Mensch „Loch“ h"ort, bekommt er Associationen: manche denken an Z"undloch, manche an Knopfloch und manche an Goebbels.
Das Loch ist der Grundpfeiler dieser Gesellschaftsordnung, und so ist sie auch. Die Arbeiter wohnen in einem finstern, stecken immer eins zur"uck, und wenn sie aufmucken, zeigt man ihnen, wo der Zimmermann es gelassen hat[74], sie werden hineingesteckt, und zum Schluss "uberblicken sie die Reihe dieser L"ocher und pfeifen auf dem letzten. In der Ackerstrasse ist Geburt Fluch; warum sind diese Kinder auch grade aus diesem gekommen? Ein paar L"ocher weiter, und das Assessorexamen w"are ihnen sicher gewesen.
Das Merkw"urdigste an einem Loch ist der Rand. Er geh"ort noch zum Etwas, sieht aber best"andig in das Nichts, eine Grenzwache der Materie. Das Nichts hat keine Grenzwache: w"ahrend den Molek"ulen am Rande eines Lochs schwindlig wird, weil sie in das Loch sehen, wird den Molek"ulen des Loches… festlig? Daf"ur gibt es kein Wort. Denn unsre Sprache ist von den Etwas-Leuten gemacht; die Loch-Leute sprechen ihre eigne.
Das Loch ist statisch; L"ocher auf Reisen gibt es nicht. Fast nicht.
L"ocher, die sich verm"ahlen, werden ein Eines, einer der sonderbarsten Vorg"ange unter denen, die sich nicht denken lassen. Trenne die Scheidewand zwischen zwei L"ochern: geh"ort dann der rechte Rand zum linken Loch? oder der linke zum rechten? oder jeder zu sich? oder beide zu beiden? Meine Sorgen m"ocht ich haben.
Wenn ein Loch zugestopft wird: wo bleibt es dann? Dr"uckt es sich seitw"arts in die Materie? oder l"auft es zu einem andern Loch, um ihm sein Leid zu klagen[75] – wo bleibt das zugestopfte Loch? Niemand weiss das: unser Wissen hat hier eines.
Wo ein Ding ist, kann kein andres sein. Wo schon ein Loch ist: kann da noch ein andres sein?
Und warum gibt es keine halben L"ocher —?
Manche Gegenst"ande werden durch ein einziges L"ochlein entwertet; weil an einer Stelle von ihnen etwas nicht ist, gilt nun das ganze "ubrige nichts mehr. Beispiele: ein Fahrschein[76], eine Jungfrau und ein Luftballon.