Der Weg durch die Niemandsrose
ist ein Weg unter Sternbildern — bemerkt dazu Kurt Oppens. - Sie sind durch das ganze Werk verstreut, «zusammengeflickt als Wohnung», Alpha Centauri, Hund mit Hellstern und Zwergleuchte, die drei kriegerischen Gürtelsterne Orions und Berenikes Haupthaar. Die Sternbilder aber sind zugleich die wahre Blindenschrift, an der auch der Sehende erblindet.[118]
Celans Blick auf den Weltall hat etwas von dem schwebenden Panoramablick des Schöpfers auf einer der zentralen Fresken der «Sixtinischen Kapelle» Michelangelos. Dieser Blick ist dynamisch und allumfassend, er sieht die Schöpfung nicht als etwas Erstarrtes, sondern eher als ein langsam abkühlendes Plasma. Eine ähnliche Optik verwendete der Dichter bereits in seinem längeren Gedicht «Engführung» aus dem Band Sprachgitter
. In der Niemandsrose ist sie nun dominierend geworden: «Soviel Gestirne, die / man uns hinhält […] // O diese Wege, galaktisch, / o diese Stunde […] / Es ist / ich weiß es, nicht wahr, / dass wir lebten, es ging / blind nur der Atem zwischen / Dort und Nicht-da und Zuweilen, / kometenhaft schwirrte ein Aug / auf Erloschenes zu, in den Schluchten, / da, wo's verglühte, stand / zitzenprächtig die Zeit, / an der schon empor- und hinab- / und hinwegwuchs, was / ist oder war oder wird —». Es ist eindeutig ein kosmischer Blick, und solche Sichtperspektiven sind in der Niemandsrose keine Seltenheit, in den abschließenden Langgedichten («Hüttenfenster», «Es ist alles anders», «Und mit dem Buch aus Tarussa», «In der Luft») sind sie das grundsätzliche Prinzip der Bilderentfaltung.Eine andere Facette der Raumkonstruktion in der Niemandsrose
ist der Weg nach innen, der Prozess der Vertiefung, der Vergra-bung in die Erde, ein unaufhörliches «Zur-Tiefe-Gehen». Die Tiefe ist für Celan mit dem Wahren identisch, man gräbt sich zu ihm nur langsam und schmerzhaft hinunter. Das Graben bedeutet auch den Weg zu den Schleusen der Erinnerung, zum Gedächtnis an die Toten. Diese gegensätzliche Bewegung — nach oben, zu den Sternen, und nach unten, in die irdische Tiefe — bildet die senkrechte Achse des Celanschen Bandes, die sich allmählich biegt und in etwas Bogen- und Kreisförmiges verwandelt, in einen Meridian, der die wichtigsten Leitmotive, Themen, Namen und Daten seiner Dichtung verbindet.Das Gedicht steht für Celan — wie er es in seiner Büchnerpreisrede Meridian
formuliert — «im Geheimnis der Begegnung». «Das Gedicht will zu einem Anderen, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu.»[119] Auf der Suche nach dem Anderen mobilisiert der Dichter das reiche Arsenal der Weltkultur und tritt mit ihren Repräsentanten in einen regen Dialog. Die Niemandsrose überrascht mit der Fülle intertextueller Beziehungen, die das Konzept seiner Dichtung als Begegnung mit dem Anderen bezeugen.