Im Unterschied zur virtuellen Begegnung mit Ossip Man-delstam war die Begegnung mit der Literatur-Nobelpreisträgerin Nelly Sachs eine durchaus reale. Celan hat die Dichterin, die bereits seit 1940 im schwedischen Exil lebte, persönlich gekannt, beide standen im regen Briefwechsel und trafen sich einige Male in Paris und Zürich. In der Auseinandersetzung mit Nelly Sachs geht es um die Problematisierung jüdischer Glaubensvorstellungen, die angesichts der Schrekken des Holocausts fraglich geworden sind. Das charakteristische Beispiel dafür ist das Gedicht «Zürich, Zum Storchen», in dem die Dialektik des Celanschen «Gegenworts» in prägender Weise hervortritt.
Diese antinomische dichterische Gesinnung bedeutet für Celan Distanzierung von den überlieferten Vorstellungen, Normen und Klischees, Dekomposition der althergebrachten Werte, Polemik gegen konservative Denkart, auch gegen Abstumpfung der Sprache und ihre Instrumentalisierung durch totalitäre Ideologien. Die «Ästhetik der Negation» gehört zu Celans typischen Methoden des bildlichen Denkens und der Umgestaltung der Realität — durch das Negieren des Offensichtlichen kommt es zu der Aufdeckung tieferer Relationen zwischen den Objekten und Erscheinungen der realen Welt und zu ihrer schonungslosen Entlarvung. Auf diese Weise entsteht dann ein kreativer «Gegenentwurf», eine neue Wirklichkeit, deren Erschaffung die eigentliche Aufgabe jeder Kunst ist.
Celans «Gegenentwurf» ist also zugleich ein neuer Daseinsentwurf.
Die Raumgestaltung dieses Kosmos beruht auf semantischen Oppositionen und Sinnparadoxien: Himmel — Erde, Licht — Dunkel, Niemand — Nichts, Mensch — Gott, oben — unten, nah — fern, weit — eng, schwer — leicht, offen — geschlossen, frei — gebunden, krumm — gerade usw. Außer solchen «absoluten» Oppositionen trifft man nicht selten auch kontextuelle Paradoxien von der Art: «Es war Erde in ihnen, und / sie gruben», «Trübung durch Helles», «Es wird stumm, es wird taub / hinter den Augen», «Es war ja ein Tümpel rings, es war der unendliche Teich», «Krük-ke du, Schwinge», «Wurzel Abrahams. Wurzel Jesse. Niemandes / Wurzel — o unser», «Der Stein trat aus dem Berge»; «Die Himmelsschlucht hinter der Stirn», «Und wir sangen die Warscho-wjanka. / Mit verschilften Lippen», «In der Luft, da bleibt deine Wurzel» u. a. Solch eine paradoxe Sicht zeigt dann die Welt nicht mehr in taktfester Harmonie, sondern in ständigen Spannungen und Brüchen, so dass sie nun als bedrohlich und unheilvoll vorkommt, was auch ihrem katastrophalen Zustand nach der Shoah entspricht.
Der Eindruck der kosmischen Dimension dieses poetischen Universums wird auch durch die Erwähnung astronomischer Begriffe verstärkt, so z. B. mehrerer Himmelskörper, die in diesem Gedichtband auftauchen.