Dann und wann. Ich wusste es sehr gut. Ich kannte die Grenzen des menschlichen Körpers – und seine Wunder. Ich hatte oft genug gesehen, wie er sich nach getaner Tagesarbeit niedersetzte und ihm die Erschöpfung in jede Falte seines Gesichtes geschrieben stand. Hatte gesehen, wie er sich an kalten Tagen morgens langsam erhob und hartnäckig gegen den Protest seiner Knochen und Muskeln ankämpfte. Ich wäre jede Wette eingegangen, dass er seit Culloden keinen einzigen schmerzfreien Tag mehr erlebt hatte, und die Schäden, die sein Körper im Krieg genommen hatte, verschlimmerten sich durch Feuchtigkeit und widrige Lebensbedingungen. Ebenso wäre ich jede Wette eingegangen, dass er niemals ein Wort davon gesagt hatte. Bis jetzt.
»Ich weiß«, sagte ich leise und berührte seine Hand. Die unregelmäßige Narbe, die ihm das Bein zerfurchte. Die kleine Mulde in seinem Arm, die eine Gewehrkugel hinterlassen hatte.
»Aber nicht, wenn ich bei dir bin«, sagte er und bedeckte meine Hand, die auf seinem Arm lag. »Wusstest du, dass ich nur dann keine Schmerzen habe, wenn ich bei dir im Bett liege, Sassenach? Wenn ich dich nehme, wenn ich in deinen Armen liege – dann sind meine Wunden geheilt, und meine Narben sind vergessen.«
Ich seufzte und legte meinen Kopf in seine Schulterbeuge. Mein Oberschenkel drückte sich an den seinen, meine weichen Muskeln schmiegten sich um sein härteres Bein.
»Meine auch.«
Er schwieg eine Weile und strich mir mit seiner gesunden Hand über das Haar. Es war wild und buschig. Durch unsere Bewegungen hatte es sich aus seiner Befestigung gelöst, und er strich die lockigen Strähnen einzeln glatt und kämmte sie zwischen seinen Fingern aus.
»Dein Haar ist wie eine große Sturmwolke, Sassenach«, murmelte er und klang, als schliefe er schon halb. »Voll Dunkelheit und Licht zugleich. Du hast keine zwei Haare, die dieselbe Farbe haben.«
Er hatte Recht; die Locke zwischen seinen Fingern wies Strähnen aus purem Weiß auf, silberne und blonde, dunkle Streifen, die schwarz wie ein Zobel waren, und an mehreren Stellen hatte es noch das Hellbraun meiner Jugend.
Seine Finger wanderten unter die Masse meines Haars, und ich spürte, wie sich seine Hand um meinen Schädelknochen legte, so dass er meinen Kopf wie einen Kelch hielt.
»Ich habe meine Mutter in ihrem Sarg gesehen«, sagte er schließlich. Sein Daumen berührte mein Ohr und fuhr an der gewölbten Außenkante entlang bis zum Ohrläppchen. Seine Berührung ließ mich erschauern.
»Die Frauen hatten ihr das Haar geflochten, damit sie anständig aussah, aber mein Vater wollte das nicht. Ich habe ihn gehört. Aber er hat nicht gebrüllt, sondern er war ganz leise. Er wollte sie das letzte Mal so sehen, wie sie für ihn gewesen war, hat er gesagt. Die Frauen haben gesagt, er sei ja halb von Sinnen vor Trauer, er sollte sie nur machen lassen und still sein. Er hat gar nicht erst versucht, weiter mit ihnen zu diskutieren, sondern ist selbst zum Sarg gegangen. Er hat ihre Zöpfe gelöst und ihr Haar mit beiden Händen über das Kissen gebreitet. Sie hatten Angst, ihn davon abzuhalten.«
Er hielt inne, und sein Daumen kam zur Ruhe.
»Ich war dabei, hab still in einer Ecke gestanden. Als sie alle ins Freie gegangen sind, um den Priester zu begrüßen, habe ich mich herangeschlichen. Ich hatte noch nie einen Toten gesehen.«
Ich umschloss wortlos seinen Unterarm mit den Fingern. Meine Mutter hatte sich eines Morgens von mir verabschiedet, mich auf die Stirn geküsst und die Spange wieder befestigt, die mir aus den Locken gefallen war. Ich hatte sie nie wieder gesehen. Ihr Sarg war geschlossen gewesen.
»War – sie es noch?«
»Nein«, sagte er leise. Er blickte mit halb geschlossenen Lidern ins Feuer. »Nicht ganz. Das Gesicht sah ihr ähnlich, mehr nicht. Als hätte jemand versucht, sie aus Birkenholz zu schnitzen. Aber ihr Haar – das war immer noch lebendig. Es war immer noch … sie.«
Ich hörte, wie er schluckte und sich leise räusperte.
»Das Haar lag ihr auf der Brust, so dass es das Kind bedeckte, das bei ihr lag. Ich dachte, es wäre ihm vielleicht unangenehm, so erdrückt zu werden. Also habe ich die roten Locken angehoben, damit er Luft bekam. Ich konnte ihn sehen – meinen kleinen Bruder, der in ihren Armen zusammengekuschelt lag, seinen Kopf auf ihrer Brust, ganz gemütlich und dunkel unter dem Vorhang aus Haaren. Also dachte ich, nein, er wäre bestimmt zufriedener, wenn ich ihn so ließ – also habe ich ihr Haar wieder über seinen Kopf gelegt.« Er holte tief Luft, und ich spürte, wie sich seine Brust unter meiner Wange hob. Seine Finger fuhren sanft durch mein Haar.
»Sie hatte kein einziges, weißes Haar, Sassenach. Nicht eins.«
Ellen Fraser war im Alter von achtunddreißig Jahren im Kindbett gestorben. Meine Mutter war zweiunddreißig gewesen. Und ich … ich besaß die Fülle all dieser Jahre, die ihnen entgangen waren. Und noch mehr.
»Zu sehen, wie dich die Jahre verändern, erfüllt mich mit Freude, Sassenach«, flüsterte er. »Denn es bedeutet, dass du am Leben bist.«