Da er nun einmal Geld für den Besuch eines Arztes ausgegeben hatte, hatte Hector Cameron offenbar beschlossen, die Gelegenheit weidlich auszunutzen, und hatte sämtliche Sklaven und Bediensteten von Rawlings untersuchen lassen, dazu den Hausherrn selbst.
Dreiundsiebzig Jahre alt, von mittlerer Größe, breitschultrig, wenn auch von leicht gebeugter Statur,
hatte Rawlings Hector beschrieben, die Hände vom Rheumatismus so verknöchert, dass es ihm unmöglich ist, irgendein Werkzeug zu handhaben, das feiner ist als ein Löffel. Darüber hinaus hat er sich gut gehalten und ist für sein Alter sehr rüstig. Beklagt nächtliches Aufstehen, schmerzhaften Harndrang. Ich neige dazu, eine krankhafte Blasenverstimmung zu vermuten, keinen Blasenstein und keine Erkrankung der inneren Geschlechtsorgane, da die Beschwerden zwar häufig wiederkehren, jedoch bis jetzt nie von langer Dauer gewesen sind – im Durchschnitt haben die Anfälle eine Dauer von zwei Wochen und gehen mit einem Brennen des männlichen Organs einher. Sein schwaches Fieber, seine Empfindlichkeit beim Abtasten des Unterleibs und sein schwarzer, stark riechender Urin lassen mich weiter zu diesem Glauben neigen.Da der Haushalt über eine beträchtliche Menge an getrockneten Preiselbeeren verfügt, habe ich ihm eine Trinkkur verschrieben, dreimal täglich eine Tasse des eingedickten Saftes. Außerdem empfehle ich Labkrauttee, morgens und abends zu trinken, seiner kühlenden Wirkung wegen sowie für den Fall, dass Harngrieß vorliegt, was die Beschwerden verstärken könnte.
Ich ertappte mich dabei, dass ich zustimmend nickte. Ich stimmte nicht immer mit Rawlings überein, was seine Diagnosen oder Behandlungsmethoden anging, doch in diesem Fall war ich der Meinung, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Doch was war mit Jocasta?
Da war sie ja, auf der nächsten Seite.
Jocasta Cameron, vierundsechzig Jahre alt, Tri-gravida, gut genährt und allgemein von guter Gesundheit, von sehr jugendlichem Aussehen.
Tri-gravida
? Bei dieser beiläufigen Anmerkung hielt ich einen Moment inne. Was für ein schlichter, schmuckloser Ausdruck für das Austragen – ganz zu schweigen vom Verlust – dreier Kinder. Drei Kinder über das gefährliche Säuglingsalter hinaus aufgezogen zu haben, nur, um sie alle zugleich zu verlieren, noch dazu auf solch grausame Weise. Die Sonne war warm, doch ich spürte, wie sich bei diesem Gedanken Kälte über mein Herz senkte.Was, wenn es Brianna wäre? Oder der kleine Jemmy? Wie ertrug eine Frau einen solchen Verlust? Ich hatte es selbst erlebt, und ich fasste es immer noch nicht. Es war schon lange her, und doch erwachte ich dann und wann des Nachts und spürte das warme, schlafende Gewicht eines Kindes auf meiner Brust, seinen warmen Atem an meinem Hals. Ich hob die Hand und berührte meine Schulter, die sich vorgeschoben hatte, als läge der Kopf des Kindes dort.
Ich nahm an, dass es einfacher war, eine Tochter bei der Geburt zu verlieren, ohne dass das Fehlen ihrer jahrelangen Gesellschaft löchrige Fetzen in das Gewebe des Alltags reißen konnte. Und doch kannte ich Faith bis ins letzte Atom ihres Wesens; mein Herz hatte ein Loch, das genau ihre Form hatte. Vielleicht half es ja, dass sie zumindest eines natürlichen Todes gestorben war; dies gab mir das Gefühl, dass sie nach wie vor irgendwie bei mir war, dass sie gut versorgt und nicht allein war. Doch seine Kinder im Krieg durch blutiges Gemetzel zu verlieren?
In dieser Zeit konnte Kindern so viel zustoßen. Aufgewühlt machte ich mich wieder an meine Lektüre der Fallgeschichte.