Es war eher Instinkt als Verstand; der Instinkt, der einen Menschen dazu drängt, die Überreste eines Unfalls aufzuräumen, die Leichen ordentlich zuzudecken, die sichtbaren Spuren der Katastrophe zu verwischen, obwohl es eine Tragödie bleibt.
Er versteckte die zusammengefaltete Seite in seiner Tasche, als wäre es ein abgetrennter Daumen, verließ die Bibliothek und begab sich auf die verregneten Straßen von Oxford.
Der Spaziergang brachte ihn zur Ruhe, versetzte ihn wieder in die Lage, rational zu denken, seine Gefühle so lange zu unterdrücken, dass er planen konnte, was zu tun war, wie er Brianna vor einem Schmerz schützen sollte, der tiefer und länger während sein würde als sein eigener.
Er hatte die bibliographische Information vorn in dem Buch überprüft; herausgegeben 1906 von einem kleinen, britischen Verlag. Es würde also nicht weit verbreitet sein; aber dennoch könnte Brianna bei ihren eigenen Nachforschungen darauf stoßen.
Es war keine naheliegende Quelle für die Informationen, die sie suchte, doch der Titel des Buches war
Unwahrscheinlich, aber nicht unwahrscheinlich genug. Jemand rempelte ihn im Vorübergehen an, und er stellte fest, dass er schon seit einigen Minuten am Brückengeländer lehnte und blicklos zusah, wie die Regentropfen auf die Wasseroberfläche prasselten. Langsam wandte er sich wieder der Straße zu, ohne die Läden und die zahllosen Regenschirme wahrzunehmen.
Es gab keine Möglichkeit sicherzugehen, dass sie niemals ein Exemplar dieses Buches zu Gesicht bekam; es konnte sein, dass dies hier das einzige Exemplar war, doch es konnte genauso gut Hunderte davon geben, die wie Zeitbomben in den Bibliotheken der USA verteilt lagen.
Der Schmerz tief in seinem Inneren wurde stärker. Er war jetzt völlig durchnässt und fror. Er spürte, wie sich bei einem weiteren Gedanken eine noch durchdringendere Kälte in ihm ausbreitete: Was würde Brianna tun, wenn sie es herausfand?
Sie würde verstört sein, schmerzerfüllt. Doch dann? Er persönlich war davon überzeugt, dass man die Vergangenheit nicht ändern konnte; die Dinge, die Claire ihm erzählt hatte, hatten ihn darin bestätigt. Sie und Jamie Fraser hatten das Gemetzel von Culloden zu verhindern versucht und nichts erreicht. Sie hatte versucht, Frank zu retten, ihren Ehemann in der Zukunft, indem sie seinen Vorfahren, Jack Randall, rettete – und hatte versagt, nur um herauszufinden, dass Jack überhaupt nicht Franks Vorfahr gewesen war, sondern die schwangere Geliebte seines jüngeren Bruders geheiratet hatte, damit das Kind nach dessen Tod ehelich geboren wurde.
Nein, die Vergangenheit mochte sich um sich selbst drehen wie eine sich windende Schlange, man konnte sie nicht ändern. Er war sich allerdings nicht so sicher, ob Brianna diese Überzeugung teilte.
Wenn da nicht die Steine von Craigh na Dun wären. Der furchtbare Steinkreis und die Möglichkeiten, die er verhieß.
Claire war am traditionellen Tag des Samhain, des uralten Feuerfestes, durch die Steine von Craigh na Dun gegangen, am ersten Tag im November vor fast zwei Jahren.
Roger erschauerte, und es lag nicht an der Kälte. Seine Nackenhaare sträubten sich jedes Mal, wenn er daran dachte. Es war ein klarer, milder Herbstmorgen gewesen, damals in der Dämmerung des Allerheiligenfestes; und nichts störte den grasbewachsenen Frieden des Hügels, auf dem der Steinkreis Wache stand. Nichts, bis Claire den großen, gespaltenen Stein berührt hatte und in die Vergangenheit verschwunden war.
Dann war es ihm erschienen, als löste sich die Erde unter seinen Füßen auf, und die Luft hatte mit einem Dröhnen an ihm gezerrt, das in seinem Kopf wie ein Kanonendonner widerhallte. Er hatte grelles Licht und dann nur noch Dunkelheit wahrgenommen, nur seine Erinnerungen an das letzte Mal hatten verhindert, dass er in völlige Panik geriet.