Als Pollyanne sich verabschiedete, zögerte sie. Offensichtlich versuchte sie, sich zu entscheiden, ob sie mir etwas sagen sollte. Sie warf Jamie einen Blick zu, dann zuckte sie mit ihren massigen Schultern und fasste ihren Entschluss. Sie beugte sich ganz dicht zu Ian hinüber und murmelte etwas, das sich anhörte, wie wenn Honig über einen Felsen sickert, wobei sie beide Hände vor ihr Gesicht hielt und mit den Fingerspitzen ihre Haut berührte. Dann umarmte sie mich rasch und ging.
Ian starrte ihr verblüfft hinterher.
»Was hat sie gesagt, Ian?«
Er wandte sich wieder zu mir, seine schwach sichtbaren Augenbrauen sorgenvoll zusammengezogen.
»Sie sagt, ich soll Onkel Jamie erzählen, dass sie in der Nacht, als die Frau in der Sägemühle gestorben ist, einen Mann gesehen hat.«
»Was für einen Mann?«
Er schüttelte immer noch stirnrunzelnd den Kopf.
»Sie kannte ihn nicht. Nur, dass es ein Weißer war, schwer und untersetzt, nicht so groß wie Onkel Jamie oder ich. Sie hat gesehen, wie er aus der Mühle gekommen und in den Wald gegangen ist. Sie hat im Dunkeln in ihrem Hütteneingang gesessen, also glaubt sie nicht, dass er sie gesehen hat – aber er ist so nah am Feuer vorbeigekommen, dass sie sein Gesicht gesehen hat. Sie sagt, er hatte Pockennarben« – an dieser Stelle hielt er die Fingerspitzen an sein Gesicht, so wie sie es getan hatte – »und ein Gesicht wie ein Schwein.«
»Murchison?« Mein Herzschlag setzte einmal aus.
»Hatte der Mann eine Uniform an?«, fragte Jamie stirnrunzelnd.
»Nein. Aber sie wollte wissen, was er da gemacht hatte; er war keiner der Plantagenbesitzer und auch keiner der Arbeiter oder Aufseher. Also hat sie sich zur Mühle geschlichen, um nachzusehen, aber als sie den Kopf hineinsteckte, hat sie gewusst, dass etwas Schlimmes passiert war. Sie hat gesagt, sie hat Blut gerochen, und dann hat sie Stimmen gehört, also ist sie nicht hineingegangen.«
Also war es Mord gewesen, und Jamie und ich waren nur um Sekunden zu spät gekommen, um ihn zu verhindern. In dem Langhaus war es warm, doch mir wurde kalt bei der Erinnerung an die dicke, blutige Luft in der Sägemühle und einen harten Küchenspieß in meiner Hand.
Jamies Hand senkte sich auf meine Schulter. Ohne zu überlegen, langte ich hoch und ergriff sie. Sie fühlte sich gut in der meinen an, und mir wurde bewusst, dass wir einander seit fast einem Monat nicht mehr freiwillig berührt hatten.
»Das tote Mädchen hat als Wäscherin bei der Armee gearbeitet«, sagte er. »Murchison hat in England eine Frau; ich schätze, eine schwangere Geliebte wäre ihm ziemlich ungelegen gekommen.«
»Kein Wunder, dass er so ein Theater um die Jagd nach dem Verantwortlichen gemacht hat – und sich dann auf die arme Frau da gestürzt hat, die nicht für sich selbst sprechen konnte.« Ians Gesicht war vor Empörung gerötet. »Wenn er sie dafür hätte hängen lassen können, dann hätte er sich in Sicherheit wiegen können, der hinterlistige Mistkerl.«
»Vielleicht statte ich dem Sergeanten nach unserer Rückkehr einen Besuch ab«, sagte Jamie. »Unter vier Augen.«
Der Gedanke ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Seine Stimme war leise und gleichmütig, und sein Gesicht war ruhig, als ich mich umdrehte, um es anzusehen. Doch mir kam es vor, als sähe ich das Spiegelbild eines dunklen, schottischen Gewässers in seinen Augen, dessen Oberfläche sich kräuselte, als sei gerade etwas Schweres darin versunken.
»Meinst du nicht, dass du im Augenblick schon genug Rache am Hals hast?«
Es klang schärfer als beabsichtigt, und seine Hand glitt abrupt aus der meinen.
»Kann schon sein«, sagte er, Gesicht und Stimme ausdruckslos. Er wandte sich an Ian.
»Wakefield – oder MacKenzie oder wie der Mann auch immer heißt – ist ein ganzes Stück weiter im Norden. Sie haben ihn an die Mohawk verkauft; ein kleines Dorf unten am Fluss. Dein Freund Onakara hat sich bereit erklärt, uns zu begleiten; wir brechen bei Tagesanbruch auf.«
Er erhob sich und ging fort, zum anderen Ende des Hauses. Alle anderen hatten sich bereits für die Nacht zurückgezogen. Fünf Feuerstellen brannten über die Länge des Hauses verteilt, jede mit ihrem eigenen Rauchabzug, und die andere Wand war in Verschläge unterteilt, einen für jedes Paar oder jede Familie, mit einem niedrigen, breiten Wandbord zum Schlafen, unter dem sich Lagerraum befand.
Jamie blieb vor dem Verschlag stehen, den man uns zur Verfügung gestellt hatte und in dem ich unsere Mäntel und Bündel liegengelassen hatte. Er zog seine Schnürstiefel aus, gürtete das Plaid auf, das er über Hemd und Kniehose trug, und verschwand in der Dunkelheit des Schlafraums, ohne sich umzublicken.
Ich stand umständlich auf und wollte ihm folgen, doch Ian bremste mich mit einer Hand auf meinem Arm.
»Tante Claire«, sagte er zurückhaltend. »Kannst du ihm nicht verzeihen?«
»
Er zog eine Grimasse.
»Nein. Das war ein tragischer Fehler, aber er würde es jederzeit wieder genauso machen, unter denselben Voraussetzungen. Nein – wegen Bonnet.«