»Lügner?«, fragte sie. »Oder Magier? Sehen sie die Gebeine im Staub der Erde, sehen sie die Essenz eines Wesens, das einmal existiert hat, und kleiden es in neue Haut, so dass das schwerfällige Arbeitstier als Fabelwesen zu neuem Leben erwacht?«
»Und ist es ein Fehler, wenn sie das tun?«, fragte Roger. Die Eisenbahnbrücke erbebte, als der
Claire blickte zu den Lettern hinauf, das Gesicht flüchtig vom Mondschein erhellt.
»Du verstehst es immer noch nicht, oder?« Sie war irritiert, doch ihre heisere Stimme erhob sich nicht über ihre normale Lautstärke.
»Man
»Ich weiß es nicht«, sagte Roger, der schreien musste, als der Lokscheinwerfer auf die Bäume fiel und der Zug oben über die Brücke donnerte.
Eine Minute lang schepperte und dröhnte es, und der Lärm ging ihnen so durch Mark und Bein, dass sie erstarrten. Dann war der Zug vorüber, und das Rattern erstarb zu einem einsamen Heulen, nachdem das Rücklicht verschwunden war.
»Und das ist das Vertrackte daran, nicht wahr?«, sagte sie und wandte sich ab. »Man
Sie spreizte plötzlich die Hände und bewegte ihre kraftvollen Finger so, dass ihre Ringe im Licht aufblitzten.
»Das lernt man, wenn man Arzt wird. Nicht in der Ausbildung – das ist ohnehin nicht der Ort zum Lernen –, sondern wenn man die Hand auf einen Menschen legt und vorgibt, ihn zu heilen. Es gibt so viele, die man nicht zu fassen bekommt. So viele, die man nicht berühren kann, so viele, deren Essenz man nicht finden kann, so viele, die einem durch die Finger gleiten. Doch an sie darf man nicht denken. Das Einzige, was man tun kann – das
Sie wandte sich wieder zu ihm um. Ihr Gesicht war vor Erschöpfung eingefallen, doch ihre Augen leuchteten im Regenlicht, und Wasser fing sich glitzernd in ihrem verworrenen Haar. Ihre Hand ruhte auf Rogers Arm, gebieterisch wie der Wind, der das Segel eines Bootes füllt und es vorantreibt.
»Lass uns zurück zum Pfarrhaus gehen, Roger«, sagte sie. »Es gibt etwas, das ich dir unbedingt sagen muss.«
Auf dem Rückweg zum Pfarrhaus blieb Claire schweigsam und wich Rogers zögerlichen Erkundigungen aus. Sie lehnte den Arm ab, den er ihr anbot, und ging für sich, den Kopf nachdenklich gesenkt. Nicht, als überlegte sie noch, dachte Roger; ihr Entschluss war schon gefallen. Sie überlegte, was sie sagen sollte.
Roger selbst war voller Fragen. In der Stille kam er nach dem Aufruhr der Enthüllungen des Tages zur Ruhe – genug, um sich zu fragen, warum genau Claire sich entschlossen hatte, ihn dabei mit einzubeziehen. Sie hätte es Brianna problemlos allein erzählen können, wenn sie das gewollt hätte. Lag es nur daran, dass sie Angst davor hatte, wie Briannas Reaktion auf die Geschichte aussehen würde, und dieser nicht allein gegenübertreten wollte? Oder hatte sie darauf gebaut, dass er ihr glauben würde – was er ja tat –, um ihn dann als Verbündeten für die Sache der Wahrheit zu verpflichten – ihrer Wahrheit und Briannas?
Seine Neugier hatte den Siedepunkt fast erreicht, als sie am Pfarrhaus ankamen. Doch zuerst gab es noch etwas anderes zu tun; zusammen leerten sie eins der größten Bücherregale und schoben es vor das zerborstene Fenster, um die kalte Nachtluft auszusperren.
Von der Anstrengung errötet, ließ sich Claire auf dem Sofa nieder, während er zu dem kleinen Getränketisch in der Ecke ging und zwei Gläser Whisky einschenkte. Als Mrs. Graham noch lebte, hatte sie Getränke immer auf einem Tablett gebracht, anständig mit Servietten, Spitzendeckchen und Gebäck. Fiona hätte das liebend gern auch getan, wenn man es ihr gestattet hätte, doch Roger zog es vor, sich seinen Whisky einfach allein einzuschenken.