Ich empfand überwältigende Müdigkeit, die Kopf und Körper überkam. Doch ich richtete mich ein letztes Mal auf und zwang meinen Körper über seine Grenzen hinaus, wie ich es schon so oft getan hatte. Bald, so versprach ich meinen schmerzenden Gliedern, meinem wunden Verstand, meinem frisch zerrissenen Herzen. Bald konnte ich ruhen. Dann konnte ich mich allein in den kleinen, gemütlichen Salon der Pension setzen, allein am Feuer mit meinen Geistern. Ich konnte in Frieden um sie trauern, konnte der Erschöpfung gemeinsam mit den Tränen freien Lauf lassen und schließlich im Schlaf vorübergehendes Vergessen, wo ich ihnen noch einmal lebendig begegnen konnte.
Doch noch war es nicht so weit. Eines hatte ich vor dem Schlafen noch zu tun.
Eine Weile spazierten sie schweigend dahin und hörten nur die fernen Verkehrsgeräusche und den Fluss, der an die Ufer schlug. Es widerstrebte Roger, ein Gespräch anzufangen, um sie nicht an Dinge zu erinnern, die sie lieber vergessen würde. Doch die Schleusen waren nun einmal geöffnet, und es war unmöglich, die Flut zurückzuhalten.
Zögernd und stockend begann sie, kleine Fragen an ihn zu richten. Er beantwortete sie, so gut er konnte, und stellte seinerseits zögernd einige Fragen. Die Freiheit, nach so vielen Jahren der aufgestauten Geheimhaltung plötzlich zu reden, schien wie eine Droge auf sie zu wirken, und Roger, der ihr fasziniert zuhörte, lockte sie weiter aus der Reserve. Bis sie die Eisenbahnbrücke erreicht hatten, hatte sie wieder zu der Charakterstärke gefunden, die ihm bei ihrer ersten Begegnung an ihr aufgefallen war.
»Er war ein Narr, ein Trunkenbold und ein alberner Schwachkopf«, verkündete sie leidenschaftlich. »Sie waren alle Narren – Lochiel, Glengarry und der ganze Rest. Sie haben zu viel zusammen getrunken und sich an Charlies törichten Träumen berauscht. Reden kann jeder, und Dougal hatte recht – es ist leicht, tapfer zu sein, wenn man bei einem Glas Bier im warmen Zimmer sitzt. Sie waren vom Alkohol benebelt und dann zu stolz auf ihre verdammte Ehre, um nachzugeben. Sie haben ihre Männer aufgepeitscht und bedroht, sie bestochen und mit Versprechungen gelockt – und sie alle ins Verderben geführt … im Namen von Ruhm und Ehre.«
Sie prustete durch die Nase und verstummte einen Moment. Dann lachte sie zu seiner Überraschung laut.
»Aber weißt du, was wirklich komisch ist? Dieser arme, alberne Tropf und seine habgierigen, dummen Helfershelfer – und die törichten, aufrechten Männer, die sich nicht dazu durchringen konnten, einen Rückzieher zu machen –, sie alle hatten eine gemeinsame Stärke: Sie haben an ihre Sache geglaubt. Und das Merkwürdige ist, dass es das ist, was von ihnen geblieben ist – von der Dummheit, der Inkompetenz, der Feigheit und der trunkenen Eitelkeit spricht niemand mehr. Alles, was heute von Charles Stuart und seinen Männern übrig ist, ist der Ruhm, nach dem sie gestrebt und den sie nie gefunden haben. Vielleicht hatte Raymond ja recht«, fügte sie in sanfterem Ton hinzu, »und es ist nur die Essenz, die zählt. Wenn die Zeit alles andere mit sich nimmt, ist die Härte der Knochen alles, was bleibt.«
»Du musst ja einige Bitterkeit gegenüber den Historikern empfinden«, wagte sich Roger vor. »All den Autoren, die es falsch dargestellt haben – ihn zum Helden gestempelt haben. Ich meine, man kann doch in den Highlands nirgendwo hingehen, ohne den Bonnie Prince auf Toffeedosen und Souvenirtassen für die Touristen zu sehen.«
Claire schüttelte den Kopf und blickte in die Ferne. Der Abendnebel wurde dichter, und wieder begann es im Gebüsch, von den Blattspitzen zu tropfen.
»Nein, nicht die Historiker. Ihr größtes Verbrechen besteht ja darin, dass sie vorgeben zu wissen, was geschehen ist, wie sich die Dinge abgespielt haben, obwohl sie nur das haben, was die Vergangenheit zu hinterlassen beschlossen hat. Sie denken mehr oder weniger das, was sie denken sollen, und es kommt nur selten vor, dass einer von ihnen hinter dem Nebelschleier aus Antiquitäten und Dokumenten sieht, was sich wirklich zugetragen hat.«
In der Ferne ertönte ein leises Grollen. Der Abendzug aus London. An klaren Abenden konnte Roger ihn vom Pfarrhaus aus hören.
»Nein, die eigentliche Schuld liegt bei den Künstlern«, fuhr Claire fort. »Den Schriftstellern, den Musikern, den Geschichtenerzählern. Sie sind es, die die Vergangenheit nehmen und sie nach ihrem Geschmack neu erschaffen. Die einen Narren nehmen und einen Helden zurückgeben können, einen Trunkenbold nehmen und einen König daraus machen können.«
»Sind sie wirklich alle Lügner?«, fragte Roger. Claire zuckte mit den Achseln. Trotz der Kühle hatte sie ihr Jackett ausgezogen; die Feuchtigkeit schmiegte ihr die Baumwollbluse so an den Körper, dass sich ihr feines Schlüsselbein und ihre Schulterblätter darunter abzeichneten.