Ruhelos befingerte er die Bücher auf dem oberen Regalbrett. Diese Werke befassten sich mit der Jakobiten-Bewegung, mit der Geschichte der Rebellionen von ’15 und ’45. Claire hatte eine Reihe der Männer und Frauen, von denen in diesen Büchern die Rede war, gekannt. Hatte an ihrer Seite gekämpft und gelitten, um ein Volk zu retten, das ihr fremd war. Hatte dabei alles verloren, was ihr lieb und teuer war. Und war am Ende gescheitert. Doch die Entscheidung hatte bei ihr gelegen, so wie sie jetzt bei ihm lag.
War es möglich, dass dies ein Traum war, eine Art Wahnvorstellung? Er warf einen verstohlenen Blick auf Claire. Sie hatte sich auf dem Sessel zurückgelehnt, reglos bis auf ihren Pulsschlag, der an ihrem Halsansatz schwach zu sehen war. Nein. Er konnte sich vielleicht für Momente einreden, dass es nur ein Märchen war, doch nur, solange er sie nicht ansah. So gern er etwas anderes geglaubt hätte, er konnte sie nicht ansehen und auch nur ein Wort von dem, was sie gesagt hatte, anzweifeln.
Er legte die gespreizten Hände flach auf den Tisch, dann drehte er sie um und sah das Labyrinth der Linien, die sich über seine Handflächen zogen. War es nur sein eigenes Schicksal, das hier in seinen Händen lag, oder auch das Leben einer unbekannten Frau?
Keine Antworten. Sanft schloss er die Hände, als hielte er etwas Winziges in seinen Fäusten gefangen, und traf seine Entscheidung.
»Finden wir sie«, sagte er.
Kein Geräusch von der reglosen Gestalt auf dem Armsessel, keine Bewegung außer dem Heben und Senken ihrer Brust. Claire war eingeschlafen.
Kapitel 48
Hexenjagd
Eine altmodische Klingel summte irgendwo in den Tiefen der Wohnung. Es war weder die beste Gegend, noch war es die schlechteste. Zum Großteil Häuser für die Arbeiterklasse, so wie dieses hier, in zwei oder drei Wohnungen unterteilt. Auf einem Zettel unter der Klingel stand MCHENRY ERSTER STOCK – ZWEIMAL KLINGELN. Sorgfältig drückte Roger erneut auf die Klingel, dann wischte er sich die Hand an der Hose ab. Seine Handflächen waren verschwitzt, was ihn fürchterlich ärgerte.
Neben der Tür stand ein Kasten mit gelben Narzissen, die halb verdurstet waren. Die Spitzen der messerförmigen Blätter krümmten sich braun, und die gerüschten gelben Blüten hingen traurig neben seinem Schuh.
Claire sah sie ebenfalls. »Vielleicht ist ja niemand zu Hause«, sagte sie und bückte sich, um die trockene Blumenerde anzufassen. »Sie haben seit über einer Woche kein Wasser mehr bekommen.«
Roger empfand eine schwache Woge der Erleichterung bei diesem Gedanken; ob er nun glaubte, dass Geillis Duncan mit Gillian Edgars identisch war oder nicht, er hatte diesem Besuch alles andere als freudig entgegengeblickt. Er wandte sich gerade zum Gehen, als sich plötzlich hinter ihm die Tür öffnete. Das klemmende Holz quietschte so sehr, dass ihm das Herz in die Kehle fuhr.
»Aye?« Der Mann, der ihnen öffnete, blinzelte sie mit geschwollenen Augen an, und sein gerötetes, aufgedunsenes Gesicht war unrasiert.
»Äh … tut uns leid, wenn wir Sie geweckt haben, Sir«, sagte Roger und versuchte, sich zur Ruhe zu zwingen. Ihm war etwas flau im Magen. »Wir suchen eine gewisse Miss Gillian Edgars. Wohnt sie hier?«
Der Mann rieb sich mit seiner schwarz bepelzten Knubbelhand über den Kopf, so dass ihm das Haar in streitlustigen Stacheln zu Berge stand.
»Für dich immer noch
»Wir würden sie nur gern sprechen«, sagte er, so versöhnlich er konnte. »Ist sie zu Hause, bitte?«
»Ist sie zu Hause, bitte?«, sagte der Mann, der Mr. Edgars sein musste, und verkniff den Mund zu einer bösen, spottenden Imitation von Rogers Oxfordakzent. »Nein, sie ist nicht zu Hause. Verpiss dich«, riet er Roger und knallte die Tür so heftig zu, dass der Spitzenvorhang zitterte.
»Ich weiß auch,
»Absolut«, sagte Roger knapp. »So viel dann wohl dazu. Hast du noch eine andere Idee, wo wir diese Frau finden könnten?«
Claire ließ die Fensterbank los.
»Er hat sich vor dem Fernseher niedergelassen«, berichtete sie. »Lassen wir ihn dort sitzen, zumindest bis die Kneipe aufmacht. In der Zwischenzeit können wir es bei diesem Institut versuchen. Fiona sagt, Gillian Edgars hat dort ein paar Kurse belegt.«
Das Institut für Studien der Highland-Folklore und -Vorzeit befand sich in der oberen Etage eines schmalen Hauses knapp außerhalb des Geschäftsbezirks. Die Empfangsdame, eine kleine, rundliche Frau mit einer braunen Strickjacke und einem bedruckten Kleid, schien entzückt, sie zu sehen; anscheinend bekam sie hier oben nicht oft Gesellschaft, dachte Roger.