Roger spürte, wie die Enge in seiner Brust plötzlich nachließ.
»Wer seid Ihr, Sir«, fragte der schmächtige Mann jetzt fordernd, während er vergeblich versuchte, Jamie seinen Unterarm zu entwinden.
Sie brauchten sich jetzt nicht mehr zu verstecken; Roger und Ian traten aus dem Gebüsch, und der Herr keuchte auf, als er Ian mit seiner Kriegsbemalung erspähte. Verstört ließ er seinen Blick zwischen Jamie und Roger hin- und herpendeln.
Da ihm Roger wohl der Zivilisierteste unter den Anwesenden zu sein schien, richtete sich der Herr flehend an ihn.
»Ich bitte Euch, Sir – wer seid Ihr, und was wollt Ihr?«
»Wir sind auf der Suche nach einer jungen Frau, die entführt worden ist«, sagte Roger. »Ziemlich hochgewachsen mit roten Haaren. Habt Ihr –« Bevor er seinen Satz beenden konnte, sah er, wie sich die Augen des Mannes in Panik weiteten. Jamie sah es ebenfalls und verdrehte dem Mann das Handgelenk, so dass er mit schmerzverzerrtem Mund in die Knie ging.
»Ich glaube, Sir«, sagte Jamie mit vorbildlicher Höflichkeit, ohne loszulassen, »wir müssen Euch bitten, uns zu sagen, was Ihr wisst.«
Sie konnte nicht zulassen, dass er sie zu fassen bekam. Das war ihr einziger bewusster Gedanke. Er griff nach ihrem unbewaffneten Arm, und sie riss sich los, so dass er auf ihrer regennassen Haut abrutschte, und holte im selben Zug nach ihm aus. Die Spitze des Elfenbeins rutschte an seinem Arm entlang und hinterließ eine Furche, die sich zunehmend rötete, doch er achtete nicht darauf und stürzte auf sie zu. Sie fiel rückwärts über das Geländer und landete ungeschickt auf Händen und Knien auf dem Palmdach, doch er hatte sie zumindest nicht erwischt.
Sie kroch hektisch auf die Dachkante zu, stieß ständig mit Händen und Knien durch das Dach und ließ dann die Beine über die Dachkante baumeln, panisch auf der Suche nach den Tritten der Leiter.
Er war hinter ihr, packte ihr Handgelenk mit festem Griff, zerrte sie auf das Dach zurück. Sie holte mit der freien Hand aus und zog ihm die Elfenbeinstange quer über das Gesicht. Er brüllte auf und lockerte seinen Griff; sie entwand sich seiner Hand und ließ sich fallen.
Sie landete mit einem markerschütternden Plumps auf dem Rücken im Sand und lag wie gelähmt da, unfähig zu atmen, während ihr der Regen ins Gesicht prasselte. Ein Triumphschrei kam vom Dach, gefolgt von einem bestürzten Knurren. Er dachte, er hätte sie umgebracht.
Sie wusste es nicht und traute sich auch nicht, es auszuprobieren. Durch ihre regennassen Wimpern sah sie, wie sich Emmanuels massiger Körper vom Dach herabließ und sein Fuß nach den einfachen Tritten angelte, die, wie sie jetzt sehen konnte, an die Wand genagelt waren.
Sie hatte ihre Waffe verloren, als sie stürzte, entdeckte sie aber dumpf glänzend dicht neben ihrem Kopf. Da ihr Emmanuel gerade den Rücken zukehrte, fasste sie mit einer raschen Handbewegung danach. Dann lag sie wieder still und stellte sich tot.
Sie hatten das Haus fast erreicht, als Geräusche aus dem Wald sie zum Stehen brachten. Roger erstarrte, duckte sich und verließ den Weg. Jamie und Ian waren schon mit dem Wald verschmolzen. Doch die Geräusche kamen nicht vom Weg, sondern von einer Stelle irgendwo zu ihrer Linken – Stimmen, Männerstimmen, die Befehle riefen, und das Schlurfen von Füßen, das Klirren von Ketten.
Panik durchfuhr ihn. Brachten sie sie etwa fort? Obwohl er vom Regen durchnässt war, spürte er, wie ihm am ganzen Körper der kalte Schweiß ausbrach, kälter als der Regen.
Howard, der Mann, den sie im Wald gestellt hatten, hatte ihnen versichert, dass Brianna im Haus in Sicherheit war, doch was wusste er schon? Er lauschte angestrengt auf eine Frauenstimme, und dann hörte er sie, ein schriller Aufschrei.
Er bewegte sich ruckartig darauf zu, doch Jamie war an seiner Seite und packte ihn am Arm.
»Das ist nicht Brianna«, sagte sein Schwiegervater drängend. »Ian geht nachsehen. Du und ich – ab zum Haus!«
Ihnen blieb keine Zeit zum Diskutieren. Vom Strand drangen schwach die Geräusche einer gewaltsamen Auseinandersetzung zu ihnen – Gebrüll und Aufschreie –, doch Jamie hatte recht, es war nicht Briannas Stimme. Ian, der schon auf den Strand zurannte, gab sich jetzt keine Mühe mehr, leise zu sein.
Eine Sekunde des Zögerns, weil ihn sein Instinkt drängte, Ian zu folgen, dann war Roger wieder auf dem Weg und folgte Jamie im Laufschritt zum Haus.
Emmanuel beugte sich über sie; sie spürte ihn und fuhr auf wie eine zuschnappende Schlange, benutzte ihr angespitztes Korsettstäbchen wie einen Fangzahn. Sie hatte auf seinen Kopf gezielt und auf ein Auge oder die Kehle gehofft, mindestens aber damit gerechnet, dass er automatisch zurückfahren und damit kurz im Nachteil sein würde.