»Oh, jetzt verlierst du aber echt den Verstand«, sagte sie laut und rieb sich die Augen. »Wegen eines Pferdes zu weinen. Noch dazu wegen
Aber sie dachte an sie, und dieser Gedanke reichte aus, um ihren Anflug von Verzweiflung zu überwinden.
Nun gut. Sie würde von hier verschwinden. Vorzugsweise bevor Mr. Ricasoli und Mr. Houvener auftauchten, wer sie auch immer waren. Zum tausendsten Mal schritt sie rastlos durch das Zimmer und zwang sich, es langsam zu tun und sich dabei anzusehen, was ihr zur Verfügung stand.
Verdammt wenig, und das, was da war, war stabil gebaut, lautete die entmutigende Antwort. Man hatte ihr etwas zu essen gegeben, Wasser zum Waschen, ein Leinenhandtuch und eine Haarbürste, um sich zurechtzumachen. Sie hob sie auf, um ihr Potenzial als Waffe einzuschätzen, dann warf sie sie wieder hin.
Der Schornstein verlief durch das Zimmer, das allerdings keinen offenen Kamin hatte. Sie stieß versuchsweise gegen die Ziegel und kratzte mit dem Stiel des Löffels, den man ihr zum Essen gegeben hatte, am Mörtel herum. Sie fand eine Stelle, an der der Mörtel so aufgeplatzt war, dass sie weiterkratzen konnte, doch nach einer Viertelstunde war es ihr nur gelungen, ein paar Zentimeter Mörtel zu lösen; der Ziegelstein selbst war nach wie vor unverrückbar an seinem Platz. Es war vielleicht den Versuch wert, wenn man einen Monat Zeit hatte – obwohl die Chancen, dass sich jemand von ihrer Größe durch einen Kamin aus dem achtzehnten Jahrhundert zwängte …
Es würde bald regnen; sie hörte das aufgeregte Rattern der Palmwedel im Wind, der scharf nach Regen roch. Es dauerte zwar noch eine Weile bis zum Sonnenuntergang, doch die Wolken hatten den Himmel verdunkelt, so dass das Licht im Zimmer nachließ. Sie hatte keine Kerze; niemand ging davon aus, dass sie lesen oder nähen würde.
Sie warf sich zum dutzendsten Mal mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Gitterstäbe des Fensters, und zum dutzendsten Mal stellte sie fest, dass sie solide eingemauert und unnachgiebig waren. Im Lauf eines Monats würde sie es womöglich auch fertigbringen, das Ende des Löffelstiels anzuspitzen, indem sie ihn an den Ziegeln des Schornsteins schliff, und ihn dann als Meißel zu benutzen, um den Rahmen so weit zu bearbeiten, dass sie einen oder zwei Stäbe herausnehmen konnte. Doch sie hatte keinen Monat.
Sie hatten ihr das ruinierte Kleid abgenommen und sie in Hemd und Korsett zurückgelassen. Nun, das war wenigstens etwas. Sie zog sich das Korsett aus, löste das Ende der Naht und zog das etwa dreißig Zentimeter lange Elfenbeinstäbchen heraus, das ihr vom Brustbein bis zum Nabel reichte. Eine bessere Waffe als eine Bürste, dachte sie. Sie ging damit zum Kamin und begann, mit dem Ende über den Ziegel zu feilen, um es anzuspitzen.
Konnte sie damit auf jemanden einstechen?
Kapitel 108
Ganz schön groß
Roger wartete in der Nähe des Strandes im Schutz der dichten Wachsmyrten; ein Stückchen weiter lagen Ian und Jamie ebenso auf der Lauer.
Das zweite Schiff war am Morgen eingetroffen und in gebührendem Abstand von dem Sklavenschiff vor Anker gegangen. Sie hatten Netze über die Bordwand von Roarkes Schiff geworfen und als Fischer getarnt beobachten können, wie zuerst der Kapitän des Sklavenschiffs an Land ging und dann eine Stunde später vom zweiten Schiff ein Boot zu Wasser gelassen und ans Ufer gerudert wurde, in dem sich zwei Männer – und eine kleine Truhe – befanden.
»Ein feiner Herr«, hatte Claire berichtet, die die Vorgänge durch das Teleskop verfolgte. »Perücke, gut gekleidet. Der andere ist ein Bediensteter – glaubt ihr, der Herr ist einer von Bonnets Handelspartnern?«
»Ja«, hatte Jamie gesagt, während er verfolgte, wie das Boot auf den Strand zufuhr. »Bringt uns bitte etwas weiter nach Norden, Mr. Roarke; wir gehen an Land.«
Zu dritt waren sie eine halbe Meile vom Strand entfernt gelandet und hatten sich durch den Wald vorgearbeitet. Dann hatten sie im Gebüsch Position bezogen und sich zum Warten niedergelassen. Die Sonne war heiß, doch so dicht am Strand wehte eine frische Brise, und abgesehen von den Insekten, war es nicht unangenehm im Schatten. Zum hundertsten Mal strich Roger etwas beiseite, das ihm über den Hals kroch.
Das Warten machte ihn nervös. Das Salz juckte auf seiner Haut, und der Duft des Gezeitenwaldes mit seiner einmaligen Mischung aus Kiefernduft und einem Hauch von Seetang und das Knirschen der Muscheln und Nadeln unter seinen Füßen erinnerten ihn lebhaft an den Tag, an dem er Lillington umgebracht hatte.