Er wandte sich weiter um, so dass ihn das vom Wasser reflektierte Licht von hinten beleuchtete, und sie spürte, wie ihre Knie nachgaben. Eine lange, gerade Nase, die zu einer hohen Stirn anstieg … der abrupt geschwungene Wangenknochen eines Wikingers … Roger packte sie fest am Arm, doch er betrachtete den jungen Mann genauso fasziniert wie sie.
»Hol … mich … der … Teufel«, sagte er.
Sie schnappte krampfhaft nach Luft.
»Mich auch. Und ihn.«
»Ihn?«
»Ihn, ihn und ihn!« Lord John, den mysteriösen jungen Soldaten – und vor allem ihren Vater. »Komm mit.« Sie entzog sich seinem Griff und schritt über den Kai. Dabei fühlte sie sich seltsam körperlos, als betrachtete sie sich aus der Ferne.
Es war, als sähe sie sich selbst in einem Spiegellabyrinth auf sich zukommen – ihr Gesicht, ihre Körpergröße, ihre Gestik, plötzlich in einen roten Rock und eine Kniehose aus Rehleder verpflanzt. Sein Haar war dunkel, kastanienbraun, nicht rot, aber es war so dicht wie das ihre, genauso leicht gewellt, und es wurde ihm von demselben Wirbel aus der Stirn gehoben.
Lord John wandte den Kopf und entdeckte sie. Seine Augen traten vor, und eine Miene totalen Schreckens ließ sein Gesicht erbleichen. Er versuchte, sie mit einer schwachen Handbewegung am Näherkommen zu hindern, doch er hätte genauso gut versuchen können, den Orient-Express aufzuhalten.
»Hallo!«, sagte sie fröhlich. »Was für eine Überraschung,
Lord John stieß ein gequetschtes Geräusch aus, als sei jemand auf eine Ente getreten, doch sie achtete nicht darauf. Der junge Mann wandte sich ihr freundlich lächelnd zu.
Ihr Herz hämmerte so heftig in ihrer Brust, dass sie davon überzeugt war, dass jeder es hören konnte. Dem jungen Mann schien jedoch nichts Besonderes aufzufallen; er verbeugte sich vor ihr, lächelnd, aber äußerst korrekt.
»Euer Diener, Ma’am«, sagte er. Er sah Lord John an und erwartete wohl, ihr vorgestellt zu werden.
Lord John riss sich mit sichtlicher Anstrengung zusammen und verbeugte sich ebenfalls vor ihr.
»Meine Liebe. Wie … reizend, Euch wiederzusehen. Ich hatte ja keine Ahnung …«
»Mein Sohn«, sagte Lord John jetzt. »William, Graf Ellesmere.« Er sah sie scharf an, als verbäte er sich jedes Wort. »Darf ich dir Mr. Roger MacKenzie vorstellen, William? Und seine Frau?«
»Sir. Mrs. MacKenzie.« Ehe sie begriff, was er vorhatte, nahm der junge Mann ihre Hand. Er beugte sich dicht darüber und drückte ihr einen kleinen, formellen Kuss auf den Handrücken.
Fast hätte sie aufgekeucht, als sie seinen Atem so unerwartet auf ihrer Haut spürte, doch stattdessen drückte sie ihm nur die Hand, sehr viel fester, als sie es vorgehabt hatte. Zuerst wirkte er verwirrt, befreite sich dann jedoch einigermaßen elegant. Er war viel jünger, als sie im ersten Moment gedacht hatte; es waren seine Uniform und seine selbstbewusste Ausstrahlung, die ihn älter erscheinen ließen. Seine klaren Gesichtszüge legten sich schwach in Falten, als er sie jetzt ansah – als versuchte er, sie irgendwo einzuordnen.
»Ich glaube …«, begann er zögernd. »Sind wir uns schon einmal begegnet, Mrs. MacKenzie?«
»Nein«, sagte sie und war erstaunt, dass ihre Stimme ganz normal klang. »Nein, ich fürchte, nicht. Daran würde ich mich erinnern.« Sie warf einen vernichtenden Blick zu Lord John hinüber, der leicht grün im Gesicht geworden war.
Doch Lord John war auch einmal Soldat gewesen. Er riss sich mit sichtlicher Mühe zusammen und legte William die Hand auf den Arm.
»Am besten gehst du und siehst nach deinen Männern, William«, sagte er. »Wollen wir später zusammen essen?«
»Ich bin mit dem Oberst zum Essen verabredet, Vater«, sagte William. »Aber ich bin sicher, dass er nichts dagegen hätte, wenn du dich uns anschließen würdest. Allerdings kann es sein, dass es ziemlich spät wird«, fügte er hinzu. »Wie ich höre, ist für morgen früh eine Exekution angesetzt, und meine Männer sollen sich bereithalten für den Fall, dass es Unruhe in der Stadt gibt. Es wird einige Zeit dauern, bis alle untergebracht sind und alles organisiert ist.«
»Unruhe.« Lord John betrachtete sie über Williams Schulter hinweg. »Rechnet man denn mit Unruhe?«
William zuckte mit den Achseln.
»Ich weiß es nicht, Vater. Anscheinend ist es jedoch keine politische Angelegenheit, sondern nur ein Pirat. Ich glaube nicht, dass es Ärger gibt.«