Auch Roger richtete den Blick auf die Wand und sah die Einladung zur Jahresversammlung der Gesellschaft der Weißen Rose – jener begeisterungsfähigen, exzentrischen Seelen, die auch heute noch von der Unabhängigkeit Schottlands träumten und sich zum nostalgischen Tribut an Charles Stuart zusammenfanden und an die Highlandhelden, die ihm gefolgt waren.
Roger räusperte sich leise.
»Äh … wenn Jamie Fraser nicht in Culloden gestorben ist …«, sagte er.
»Dann ist er vermutlich kurz darauf gestorben.« Claires Augen sahen Roger unverblümt an, und jetzt war der kühle Ausdruck in die gelblich braunen Tiefen zurückgekehrt. »Du hast doch keine Ahnung, wie es damals war«, sagte sie. »Es herrschte Hungersnot in den Highlands – vor der Schlacht hatten sie alle tagelang nichts mehr gegessen. Er war verletzt – das wissen wir. Selbst wenn er entkommen wäre, wäre ja niemand da gewesen, der sich … um ihn kümmerte.« Ihre Stimme überschlug sich leise; heute war sie Ärztin, war schon damals Heilerin gewesen, zwanzig Jahre zuvor, als sie durch einen Steinkreis geschritten war und ihrem Schicksal in Gestalt von James Alexander Malcolm MacKenzie Fraser begegnet war.
Roger war sich der beiden Frauen bewusst; der hochgewachsenen, zitternden jungen Frau, die er in den Armen hielt, und der Frau am Schreibtisch, so reglos und gefasst. Sie war durch die Steine gereist, durch die Zeit; war der Spionage verdächtigt worden, als Hexe verhaftet worden, durch eine unvorstellbare Laune des Schicksals aus den Armen ihres ersten Ehemanns Frank Randall gerissen worden. Und drei Jahre später hatte ihr zweiter Mann Jamie Fraser sie schwanger durch die Steine zurückgeschickt, ein verzweifelter Versuch, sie und das ungeborene Kind vor der Katastrophe zu retten, die unweigerlich über ihn hereinbrechen würde.
Gewiss, so dachte er, hat sie doch genug durchgemacht? Doch Roger war Historiker. Er besaß die unersättliche, amoralische Neugier eines Wissenschaftlers, die zu machtvoll war, um sich von simplem Mitgefühl bändigen zu lassen. Mehr noch, er empfand ein seltsames Gespür für die dritte Person in der Familientragödie, in die er sich verwickelt sah – Jamie Fraser.
»Wenn er nicht in Culloden gestorben ist«, begann er erneut, diesmal entschlossener, »dann kann ich vielleicht herausfinden, was aus ihm geworden ist. Möchtest du, dass ich es versuche?« Er wartete atemlos und spürte Briannas warmen Atem durch sein Hemd.
Jamie Fraser hatte gelebt und war gestorben. Roger hatte das obskure Gefühl, dass es seine Pflicht war, es herauszufinden, dass Jamie Frasers Frauen es verdienten zu erfahren, was immer sich über ihn herausfinden ließ. Für Brianna war dieses Wissen alles, was sie von dem Vater haben würde, dem sie nie begegnet war. Und für Claire … Hinter der Frage, die er gestellt hatte, steckte der Gedanke, der ihr sichtlich noch nicht gekommen war, betäubt und schockiert, wie sie war: Sie hatte die Barriere der Zeit zweimal überwunden. Möglich, dass sie es noch einmal vermochte. Und wenn Jamie Fraser nicht in Culloden gestorben war …
Er sah, wie es im trüben Bernstein ihrer Augen aufflackerte, als ihr der Gedanke kam. Sie war ohnehin immer blass; jetzt wurde ihr Gesicht so weiß wie der Elfenbeingriff des Brieföffners vor ihr auf dem Schreibtisch. Ihre Finger schlossen sich so fest darum, dass sich die Knöchel deutlich abmalten.
Lange Zeit sagte sie nichts. Ihr Blick heftete sich auf Brianna und verweilte einen Moment, dann kehrte er zu Rogers Gesicht zurück.
»Ja«, sagte sie, ein Flüstern, so leise, dass er sie kaum hören konnte. »Ja. Finde es für mich heraus. Bitte. Finde es heraus.«
Kapitel 3
Frank und frei
Die Brücke über den Ness war voller Fußgänger, die nach Hause zum Abendessen strömten. Roger ging voraus, und seine breiten Schultern schützten mich vor den Remplern der Menge ringsum.
Ich konnte mein Herz heftig gegen den Umschlag des Buches schlagen spüren, das ich an meine Brust geklammert hielt. Ich bekam jedes Mal Herzklopfen, wenn ich innehielt, um darüber nachzudenken, was wir hier tatsächlich taten. Ich war mir nicht sicher, welche der möglichen Alternativen schlimmer war; herauszufinden, dass Jamie in Culloden gestorben war, oder herauszufinden, dass es nicht so war.
Die Bohlen der Brücke hallten unter unseren Füßen wider, als wir nun zum Pfarrhaus zurückstapften. Vom Gewicht der Bücher taten mir die Arme weh, und ich verlagerte sie auf die andere Seite.
»Pass auf mit dem verdammten Rad, Mann!«, rief Roger und schubste mich geschickt zur Seite, als ein Arbeiter auf dem Fahrrad mit gesenktem Kopf durch den Verkehr auf der Brücke pflügte und mich dabei um ein Haar gegen die Reling stieß.
»’tschuldigung«, rief er und winkte hinter sich, während sich sein Rad zwischen zwei Gruppen von Schulkindern auf dem Heimweg zum Tee hindurchschlängelte. Ich warf einen Blick über die Brücke, um zu sehen, ob Brianna irgendwo hinter uns war, doch es war nichts von ihr zu sehen.
Алекс Каменев , Владимир Юрьевич Василенко , Глуховский Дмитрий Алексеевич , Дмитрий Алексеевич Глуховский , Лиза Заикина
Фантастика / Приключения / Современная русская и зарубежная проза / Научная Фантастика / Социально-психологическая фантастика / Социально-философская фантастика / Современная проза