»Das kann doch unmöglich so einfach gewesen sein, wie es sich anhört.« Roger pustete in seinen Kakao und betrachtete Claire mit unverhohlener Neugier. »Es gab doch damals nicht viele Frauen in Ärztekreisen – es gibt ja selbst heute nicht so viele Ärztinnen –, und außerdem hattest du Familie.«
»Nein, ich kann nicht sagen, dass es irgendwie einfach war.« Claire sah ihn belustigt an. »Ich habe natürlich gewartet, bis Brianna in der Schule war und wir uns Hilfe im Haushalt leisten konnten – aber …« Sie zuckte mit den Schultern und lächelte ironisch. »Ich habe mir für ein paar Jahre das Schlafen abgewöhnt. Das hat ein bisschen geholfen. Und seltsamerweise hat Frank auch mitgeholfen.«
Roger prüfte seine Tasse und fand sie beinahe genug abgekühlt zum Trinken. Er hielt sie in den Händen und genoss das Gefühl der Wärme, die durch das dicke weiße Porzellan in seine Handflächen strömte. Es mochte ja Anfang Juni sein, aber die Nächte waren immer noch so kalt, dass sie nicht ohne den Radiator auskamen.
»Tatsächlich?«, sagte er neugierig. »Nach dem, was du bis jetzt von ihm erzählt hast, hätte ich nicht gedacht, dass es ihm gefallen hätte, wenn du eine Ausbildung machst oder Ärztin bist.«
»Es hat ihm auch nicht gefallen.« Ihre Lippen pressten sich fest aufeinander; die Bewegung verriet Roger mehr als Worte, denn sie zeugte von erbitterten Diskussionen, von abgebrochenen Gesprächen, von hartnäckiger, subtiler Verhinderungstaktik statt offener Missbilligung.
Was für ein bemerkenswert ausdrucksvolles Gesicht sie hatte, dachte er, während er sie beobachtete. Ganz plötzlich fragte er sich, ob das seine genauso leicht zu lesen war. Der Gedanke war so verstörend, dass er sein Gesicht in die Tasse steckte und den Kakao schluckte, obwohl er immer noch etwas zu heiß war.
Als er aus der Tasse auftauchte, beobachtete ihn Claire mit etwas sardonischer Miene.
»Warum?«, fragte er schnell, um sie abzulenken. »Was hat ihn bewogen, seine Meinung zu ändern?«
»Brianna«, sagte sie, und ihre Miene wurde weich, wie immer, wenn der Name ihrer Tochter fiel. »Brianna war das Einzige, was Frank wirklich wichtig war.«
Wie schon gesagt, hatte ich gewartet, bis Brianna in die Schule kam, ehe ich meine medizinische Ausbildung begann. Doch auch so klaffte zwischen ihrem Schulschluss und meinem Feierabend eine große Lücke, die wir aufs Geratewohl mit einer Reihe mehr oder minder kompetenter Haushälterinnen und Babysitterinnen füllten, manche mehr, die meisten von ihnen minder.
Meine Erinnerung kehrte zu dem beängstigenden Tag zurück, an dem mich im Krankenhaus ein Anruf erreichte, der mir mitteilte, dass sich Brianna verletzt hatte. Ich war aus dem Gebäude geschossen, ohne auch nur meinen grünen OP-Anzug abzulegen, und war unter Missachtung sämtlicher Geschwindigkeitsbegrenzungen nach Hause gerast, wo ich ein Polizeiauto und einen Rettungswagen vorfand, der blutrot in der Nacht pulsierte – und eine Gruppe von Nachbarn, die sich draußen auf der Straße drängten.
So, wie wir die Geschichte hinterher zusammenpuzzelten, war Folgendes geschehen: Weil sich die aktuelle Babysitterin darüber ärgerte, dass ich erneut spät dran war, hatte sie einfach zur vereinbarten Zeit ihren Mantel angezogen und war gegangen. Die siebenjährige Brianna hatte sie mit der Anweisung zurückgelassen, »auf Mami zu warten«. Das hatte die Kleine auch gehorsam getan, etwa eine Stunde lang. Doch als es allmählich dunkel wurde, hatte sie allein im Haus Angst bekommen und beschlossen, nach draußen zu gehen und mich zu suchen. Bei der Überquerung einer vielbefahrenen Straße in der Nähe unseres Hauses war sie von einem abbiegenden Fahrzeug angefahren worden.
Sie war – Gott sei Dank! – nicht schwer verletzt; das Auto war langsam gefahren, und das Erlebnis hatte nur ein paar blaue Flecken hinterlassen und ihr einen Riesenschreck eingejagt. Doch ihr Schreck war längst nicht so groß wie der meine, als ich ins Wohnzimmer kam, wo sie auf dem Sofa lag und mich ansah und ihr die Tränen erneut über die fleckigen Wangen rannen und sie sagte: »Mami! Wo
Ich hatte so gut wie all meine Reserven an professioneller Ruhe und Fassung benötigt, um sie zu trösten, sie noch einmal zu untersuchen, ihre Platzwunden und Kratzer frisch zu verbinden, mich bei ihren Rettern zu bedanken – die mich in meiner fiebrigen Einbildung kollektiv anklagend anstarrten – und sie zu Bett zu bringen, ihren rettenden Teddybären in den Armen. Dann setzte ich mich in die Küche und weinte endlich selbst.
Frank tätschelte mich unbeholfen und murmelte auf mich ein, dann gab er es auf und ging Tee kochen, was ihm deutlich besser lag.
»Ich habe mich entschieden«, sagte ich, als er die dampfende Tasse vor mich hinstellte. »Ich kündige. Gleich morgen.«
»Kündigen?« Franks Stimme war scharf vor Erstaunen. »Du gibst deine Ausbildung auf? Warum denn?«
Алекс Каменев , Владимир Юрьевич Василенко , Глуховский Дмитрий Алексеевич , Дмитрий Алексеевич Глуховский , Лиза Заикина
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