Читаем Русская германистика. Ежегодник Российского союза германистов. Т. 15. Революция и эволюция в немецкоязычных литературах полностью

Ganz anders nimmt sich die Begriffsgeschichte von ‚Evolution‘ aus [vgl. DFWB22004, V/350–357]. Der etymologische Kern, das lateinische ‚evolutio‘ von ‚evolvere‘, meint zun"achst konkret das Auseinanderrollen einer Schriftrolle, "ubertragen dann das Ausrollen und allm"ahliche Entfalten, Entwickeln einer Sache, auch deren Erforschen. Zwar bezeichnete auch das deutsche Fremdwort im 17. und 18. Jahrhundert die Ver"anderung von Truppenteilen, doch blieb das ein Randaspekt der Begriffsgeschichte. Dominant wird vielmehr der Aspekt der nat"urlichen, pr"aformierten Entwicklung in der langen Dauer: Biologisch geht es um die Entfaltung des im Samen oder Keim Angelegten in der voll entwikkelten Pflanze; medizinisch um die Entwicklung vom Embryo zum entwickelten Menschen. In diesem Sinne verbindet sich ‚Evolution‘ mit den Nebenbedeutungen des Organischen und Nat"urlichen. Goethes Begriffe der ‚Metamorphose‘ und der ‚Entelechie‘ stehen deutlich in dieser Begriffstradition.

Unter dem Einfluss von Charles Darwins On the Origin of Species von 1859 tritt der Begriff aus der Sph"are der Individualgeschichte in die Menschheitsgeschichte "uber, aus der Ontogenese in die Phylogenese. ‚Evolution‘ meint hier die ‚stammesgeschichtliche Entwicklung der Lebewesen von niederen zu h"oheren Formen‘, mithin eine Entwicklung, der eine spezifische Logik zugrunde liegt, n"amlich die des linearen Aufstiegs, des Fortschritts.

Eine solche Entwicklungslogik hatte bereits die fr"uhe Geschichtsphilosophie der Aufkl"arung der Entwicklung des Menschengeschlechts unterlegt, und zwar als Prinzip der Vervollkommnung, der Perfektibilit"at in teleologischer Auslegung. Dieser Hintergrund er"offnet die M"oglichkeit der "Ubertragung von ‚Evolution‘ im vordarwinistischen und dann im darwinistischen Sinne auf die Bereiche von Kultur, Gesellschaft und Geschichte. Ein langsames, bruchloses und vor allem lange w"ahrendes Sich-Entfalten liess sich schon im 18. und dann darwinistisch modifiziert seit der zweiten H"alfte des 19. Jahrhunderts als ‚Evolution‘ beschreiben. Erst in dieser Sph"are und dieser Bedeutung tritt ‚Evolution‘ in Opposition zu ‚Revolution‘, wie wir bereits gesehen haben. Nach der Oktoberrevolution in Russland und der Novemberrevolution in Deutschland erkl"arte Gustav Stresemann 1919 in seiner Redensammlung Von der Revolution bis zum Frieden von Versailles: „die entwicklung zum besseren [durfte] nur den weg der evolution, niemals den weg der revolution gehen“.

In der Geschichte beider Begriffe f"allt auf, dass ‚Revolution‘ wie ‚Evolution‘ ihre modernen Begriffsinhalte im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erhalten, also in der Phase, die die Bielefelder Historikerschule um Reinhart Koselleck als die „Sattelzeit“ um 1800 beschrieben hat, in der vormoderne in moderne Gesellschaftsformen "ubergehen. Die Modernit"at beider Begriffe – und das ist entscheidend – stellt sich aber ganz unterschiedlich dar. ‚Revolution‘ ist insofern wahrhaft modern, als der Begriff eigentlich eine Leerstelle bezeichnet, die dort entsteht, wo alte metaphysisch-ontologische Deutungsschemata nicht mehr greifen. Das Erdbeben von Lissabon 1755 war noch metaphysisch-theologisch interpretierbar gewesen, ja das Ereignis befeuerte geradezu die philosophische Diskussion: Die Theodizee-Frage wurde neu diskutiert; Voltaire verspottete Leibniz und sein Theorem der „besten aller m"oglichen Welten“; Rousseau und Voltaire stritten "uber den Optimismus et cetera. Die Franz"osische Revolution hingegen fand statt am Ende des Jahrhunderts der Aufkl"arung, das fortw"ahrend Metaphysikkritik unter dem Label der Vorurteilskritik betrieben hatte. Die sich brachial in der Tagespolitik entladende Gewalt war 1789 weder in die theologische Providentia-Lehre, also in den weisen Plan Gottes, noch in ein geschichtsphilosophisches Fortschritts- oder Perfektibilit"atsmodell zu integrieren. Im Gegenteil: Geschichtsphilosophie musste erst neu erfunden oder vom idealistischen Kopf auf die materialistischen F"usse gestellt werden, um Revolutionen sinnstiftend in eine neue metaphysische Ersatzreligion integrieren zu k"onnen. Zusammenfassend: Im Umfeld von 1789 meinte ‚Revolution‘ das aus jeder Ordnung Herausfallende, sich jeder Sinnstiftung Entziehende – und war in diesem Sinne geradezu dekonstruktivistisch modern.

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В эту книгу вошли статьи и рецензии, написанные на протяжении тридцати лет (1988-2019) и тесно связанные друг с другом тремя сквозными темами. Первая тема – широкое восприятие идей Михаила Бахтина в области этики, теории диалога, истории и теории культуры; вторая – применение бахтинских принципов «перестановки» в последующей музыкализации русской классической литературы; и третья – творческое (или вольное) прочтение произведений одного мэтра литературы другим, значительно более позднее по времени: Толстой читает Шекспира, Набоков – Пушкина, Кржижановский – Шекспира и Бернарда Шоу. Великие писатели, как и великие композиторы, впитывают и преображают величие прошлого в нечто новое. Именно этому виду деятельности и посвящена книга К. Эмерсон.В формате PDF A4 сохранен издательский макет книги.

Кэрил Эмерсон

Литературоведение / Учебная и научная литература / Образование и наука