F"ur das neue diachrone Ordnungsdenken steht das Modell der Geschichtserz"ahlung, und zwar einer Geschichte im Singular, die alle Geschichten im Plural, wie man sie in der Vormoderne verzeichnete, aufsaugt, verdaut und daraus einen ununterbrochenen Faden der Koh"arenz spinnt. Ordnung offenbart sich nicht in synchroner Systematik, sondern in historischen Entwicklungen, besser in „der“ historischen Entwicklung "uberhaupt.
Daf"ur schloss man die "uberlieferten Daten, Fakten und Einzelgeschichten grossr"aumig zu einem Ganzen zusammen, das im 18. Jahrhundert „Universalgeschichte“ hiess. In einem strukturierten Zeitkontinuum erz"ahlt Universalgeschichte im 18. Jahrhundert von der „Vervollkommnung des Menschengeschlechts“, organisiert die eine Geschichte also als ganzheitlichen, sich langsam entfaltenden Sinnzusammenhang.
Im
Welch ein Werk "uber das Menschliche Geschlecht! den Menschlichen Geist! die Cultur der Erde! aller R"aume! Zeiten! V"olker! Kr"afte! Mischungen! Gestalten! […] Grosses Thema: das Menschengeschlecht wird nicht vergehen, bis dass es alles geschehe! Bis der Genius der Erleuchtung die Erde durchzogen! Universalgeschichte der Bildung der Welt! [Herder 1877–1913, IV/353]
Nur einige Jahrzehnte sp"ater differenziert sich aus der Universalgeschichte die Kunst- und Literaturgeschichte aus, doch das holistischmetaphysische Erbe bleibt auch dieser unver"andert eingeschrieben. In seiner Abhandlung „Begriff einer Geschichte der Kunst und ihre Beziehung auf die Theorie“ von 1801/02 wiederholt August Wilhelm Schlegel fast w"ortlich Herders Emphase: „Folglich ist alle Geschichte Bildungsgeschichte der Menschheit“. Geschichte sei „Evolution des menschlichen Geistes“, sie zeuge von einem „unendliche[n] Fortschritt“, der sich aber nur bei der Betrachtung des Ganzen zeige. Es gelte: „nur im Ganzen darf die Beziehung auf eine Idee liegen“ [Schlegel, A. W. 1975: 68].
Zwei Jahre sp"ater beschw"ort Friedrich Schlegel in seinem Aufsatz „Geschichte der europ"aischen Literatur“ deren inneren organischen Zusammenhang:
Dieser ausserordentliche Umfang [der europ"aischen Literatur] macht die IDEE DES GANZEN notwendig […]. Die europ"aische Literatur bil-det ein zusammenh"angendes Ganzes, wo alle Zweige innigst verwebt sind, eines auf das andere sich gr"undet, durch dieses erkl"art und erg"anzt wird. Dies geht durch alle Zeiten und Nationen herab bis auf unsere Zeiten. Das Neueste ist aber ohne das Alte nicht verst"andlich [Schlegel, F. 1975: 78].
Man meint, hier bereits Ernst Robert Curtius zu h"oren:
Die europ"aische Literatur ist der europ"aischen Kultur zeitlich koextensiv, umfasst also einen Zeitraum von etwa sechsundzwanzig Jahrhunderten […]. Man erwirbt das B"urgerrecht im Reiche der europ"aischen Literatur nur, wenn man viele Jahre in jeder seiner Provinzen geweilt hat und viele Male die eine mit der anderen vertauscht hat [Curtius 1978: 22].
In den 1990er Jahren unternahm es Aleksandr Michajlov, dem westeurop"aischen, speziell dem deutschsprachigen Publikum die russische Literaturwissenschaft zu erkl"aren. Sein Ansatz war "uberaus subtil. Sein Bericht „Zum heutigen Stand der Germanistik in Russland“ von 1995 beginnt unter der ersten Zwischen"uberschrift „Das Ganze […]“: