Selbst der grosse Antimetaphysiker Immanuel Kant, der meinte, dass die Ordnung der Welt gar nicht Gegenstand der Philosophie sein k"onne, da uns das Ding an sich nicht zug"anglich sei, und Philosophie sich stattdessen mit der Ordnung unseres Denkens besch"aftigen m"usse, beh"alt denselben d"unnen Halm in der Hand. Denn auch er stand vor dem Problem, warum diese Ordnung des Denkens irgendwie relevant sein soll f"ur die Erkenntnis der Ordnung der Dinge, der Ordnung des Seins. Taugt Philosophie nach der kopernikanischen Wende "uberhaupt noch zu irgendetwas – ausser dazu, sich mit sich selbst zu besch"aftigen? Den Preis einer verneinenden Antwort will Kant nat"urlich nicht zahlen, und so behauptet auch er – ganz in theologisch-metaphysischer Tradition – eine Korrespondenz zwischen der Ordnung des Denkens und der Ordnung des Seins. Aber wer h"atte diese gestiftet? An seiner Antwort in der
Exakt dieser Befund gilt auch f"ur den ‚Evolutions‘-Begriff in der modernen Literaturgeschichtsschreibung und Literaturwissenschaft. Doch auf dem Weg zu Veselovskij, Curtius und Ejchenbaum bedarf es noch einer Zwischenstation.
Der gr"ossere Bruder des ‚Evolutions‘-Begriffs ist das philosophische Konzept des Holismus. Entsprechend nannte Jan Christian Smuts sein 1924 erschienenes Hauptwerk
Auch wenn das Wort ‚Holism‘ jung ist, gab es holistisches Denken schon sehr viel fr"uher. Goethes Faust bestaunt das Zeichen des Makrokosmos mit den Worten:
Dabei wusste Goethe sehr wohl um die metaphysische Dimension dieses holistischen Denkansatzes. In den
Sagst Du: Gott! So sprichst Du vom Ganzen [Goethe 1987, I/5,1: 144].
Oder weniger poetisch in seinen Spinoza-Studien:
In jedem lebendigen Wesen sind das, was wir Theile nennen, der-gestalt unzertrennlich vom Ganzen, dass sie nur in und mit demselben begriffen werden k"onnen, und es k"onnen weder die Theile zum Mass des Ganzen noch das Ganze zum Mass der Theile angewendet werden [Goethe 1987, II/11: 317].
Das gilt analog f"ur das Individuum im Verh"altnis zum Ganzen seiner geschichtlichen Umwelt, was uns hier nicht weiter interessiert; es gilt aber auch f"ur das Kunstwerk als kleine Sch"opfung des K"unstlers im Verh"altnis zur Welt als grosser Sch"opfung Gottes:
Jedes Sch"one Ganze der Kunst ist im Kleinen ein Abdruck des h"ochsten Sch"onen, im Ganzen der Natur [Goethe 1987, I/47: 86].
Holistisches Denken gewann eine neue Qualit"at, als man es verzeitlichte. F"ur das alte synchrone Ordnungsdenken steht das Modell der Botanisiertrommel. Man zog durch die Natur und sammelte Versatzst"ucke ein, die man dann klassifizieren und kartographieren konnte, um das grosse Ganze des Ordnungszusammenhangs wieder sichtbar zu machen.