Читаем Русская германистика. Ежегодник Российского союза германистов. Т. 15. Революция и эволюция в немецкоязычных литературах полностью

Selbst der grosse Antimetaphysiker Immanuel Kant, der meinte, dass die Ordnung der Welt gar nicht Gegenstand der Philosophie sein k"onne, da uns das Ding an sich nicht zug"anglich sei, und Philosophie sich stattdessen mit der Ordnung unseres Denkens besch"aftigen m"usse, beh"alt denselben d"unnen Halm in der Hand. Denn auch er stand vor dem Problem, warum diese Ordnung des Denkens irgendwie relevant sein soll f"ur die Erkenntnis der Ordnung der Dinge, der Ordnung des Seins. Taugt Philosophie nach der kopernikanischen Wende "uberhaupt noch zu irgendetwas – ausser dazu, sich mit sich selbst zu besch"aftigen? Den Preis einer verneinenden Antwort will Kant nat"urlich nicht zahlen, und so behauptet auch er – ganz in theologisch-metaphysischer Tradition – eine Korrespondenz zwischen der Ordnung des Denkens und der Ordnung des Seins. Aber wer h"atte diese gestiftet? An seiner Antwort in der Kritik der reinen Vernunft ist das Gequ"alte nicht zu "ubersehen: Er komme nicht umhin, die „Idee einer h"ochsten und schlechthin notwendigen Vollkommenheit eines Urwesens [anzuerkennen], welches der Ursprung aller Kausalit"at ist“ [Kant 1998, II/599] und somit den „Grund der Weltordnung und ihres Zusammenhanges nach allgemeinen Gesetzen enthalte“ [Kant 1998, II/600]. Nur nennt er diesen „Urgrund“ nicht mehr vormodern ‚Gott‘, sondern modern „intellectus archetypus“ [Kant 1998, II/600], womit wir einen weiteren Begriff aus der Sattelzeit haben, der vormoderne Metaphysik nicht abwirft, sondern lediglich in modernem Begriffsdesign verschattet.

Exakt dieser Befund gilt auch f"ur den ‚Evolutions‘-Begriff in der modernen Literaturgeschichtsschreibung und Literaturwissenschaft. Doch auf dem Weg zu Veselovskij, Curtius und Ejchenbaum bedarf es noch einer Zwischenstation.

4. Holismus

Der gr"ossere Bruder des ‚Evolutions‘-Begriffs ist das philosophische Konzept des Holismus. Entsprechend nannte Jan Christian Smuts sein 1924 erschienenes Hauptwerk Holism and Evolution. Danach meint ‚Holismus‘ die Grundauffassung, dass „alle Daseinsformen […] danach streben, Ganze zu sein“ [zit. n. Goerdt 1974: 1167]. Und dieses ‚Ganze‘ ist mehr als die Summe seiner Teile, ihm eignet vielmehr eine eigene Qualit"at. Der Zusammenhang mit ‚Evolution‘ im Sinne von ‚Entfaltung‘, ‚Entwicklung‘ ist ein logischer: Ohne den holistischen "Uberbau k"onnte man nur ‚Ver"anderung‘ feststellen; ‚Evolution‘ aber ist ein substantialistischer Begriff, der die Ver"anderung in eine gegebene Ordnung einbettet, eine Ordnung, die die G"ultigkeit der – wie auch immer definierten – Evolutionsgesetze garantiert. Selbstverst"andlich ist auch ‚Holism‘ ein moderner Begriff, der alte metaphysische Probleme nicht l"ost oder abwirft, sondern in modernem Design reformuliert.

Auch wenn das Wort ‚Holism‘ jung ist, gab es holistisches Denken schon sehr viel fr"uher. Goethes Faust bestaunt das Zeichen des Makrokosmos mit den Worten:

Wie alles sich zum Ganzen webt,Eins in dem andern wirkt und lebt! [Goethe 1987, I/14: 30]

Dabei wusste Goethe sehr wohl um die metaphysische Dimension dieses holistischen Denkansatzes. In den Zahmen Xenien heisst es entsprechend:

Sagst Du: Gott! So sprichst Du vom Ganzen [Goethe 1987, I/5,1: 144].

Oder weniger poetisch in seinen Spinoza-Studien:

In jedem lebendigen Wesen sind das, was wir Theile nennen, der-gestalt unzertrennlich vom Ganzen, dass sie nur in und mit demselben begriffen werden k"onnen, und es k"onnen weder die Theile zum Mass des Ganzen noch das Ganze zum Mass der Theile angewendet werden [Goethe 1987, II/11: 317].

Das gilt analog f"ur das Individuum im Verh"altnis zum Ganzen seiner geschichtlichen Umwelt, was uns hier nicht weiter interessiert; es gilt aber auch f"ur das Kunstwerk als kleine Sch"opfung des K"unstlers im Verh"altnis zur Welt als grosser Sch"opfung Gottes:

Jedes Sch"one Ganze der Kunst ist im Kleinen ein Abdruck des h"ochsten Sch"onen, im Ganzen der Natur [Goethe 1987, I/47: 86].

5. (Literatur-)Geschichtsschreibung, Literaturtheorie

Holistisches Denken gewann eine neue Qualit"at, als man es verzeitlichte. F"ur das alte synchrone Ordnungsdenken steht das Modell der Botanisiertrommel. Man zog durch die Natur und sammelte Versatzst"ucke ein, die man dann klassifizieren und kartographieren konnte, um das grosse Ganze des Ordnungszusammenhangs wieder sichtbar zu machen.

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В эту книгу вошли статьи и рецензии, написанные на протяжении тридцати лет (1988-2019) и тесно связанные друг с другом тремя сквозными темами. Первая тема – широкое восприятие идей Михаила Бахтина в области этики, теории диалога, истории и теории культуры; вторая – применение бахтинских принципов «перестановки» в последующей музыкализации русской классической литературы; и третья – творческое (или вольное) прочтение произведений одного мэтра литературы другим, значительно более позднее по времени: Толстой читает Шекспира, Набоков – Пушкина, Кржижановский – Шекспира и Бернарда Шоу. Великие писатели, как и великие композиторы, впитывают и преображают величие прошлого в нечто новое. Именно этому виду деятельности и посвящена книга К. Эмерсон.В формате PDF A4 сохранен издательский макет книги.

Кэрил Эмерсон

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