‚Evolution‘ hingegen geh"ort zu jenen in der Sattelzeit neu entstehenden Begriffen, die die Last der metaphysisch-ontologischen Tradition, die man eigentlich abwerfen wollte, in einem modernen Begriffsdesign fortschrieben. ‚Entwicklung‘ und ‚Entfaltung‘ sind ohne metaphysische Fundamentalannahmen gar nicht denkbar. Was sich entwickeln, entfalten soll, muss der Essenz nach bereits wesenhaft vorhanden sein, wie Sartre gesagt h"atte. Das gilt f"ur den Samen der Pflanze wie f"ur die Individualit"at des Individuums. Der Keim tr"agt bereits das Programm, nur blendet die Moderne die alten Fragen aus, wer dieses Programm dort eingeschrieben hat und zu welchem Zweck, nach welchem Plan.
Im Bereich der Geschichtsphilosophie l"asst sich kurz zeigen, dass mit der Wahl zwischen den Prinzipien von ‚Revolution‘ und ‚Evolution‘ auch in der Moderne g"anzlich unterschiedliche Weltzug"ange oder Weltdeutungsmuster verbunden sind. Wir wenden uns zur Verdeutlichung Goethe zu:
es liegt nun einmal in meiner Natur, ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen, als Unordnung ertragen [Goethe 1987, I/33: 315].
Zuletzt hat Gustav Seibt [2014] in seinem Buch
Diese Ordnungsstruktur der Natur war in der Vormoderne immer auf ihren Sch"opfer zur"uckgef"uhrt worden, ganz egal ob man Gott als grossen Baumeister und Ingenieur verehrte – man denke an die Uhr im Strassburger M"unster – oder sich in der Physikotheologie dem „irdischen Vergn"ugen in Gott“ [vgl. Brockes 1721–48] hingab, indem man die Natur als zweites Buch Gottes las. Die moderne Reformulierung dieses Problems lernten Goethe wie seine Zeitgenossen von Spinoza, der in seiner Formel „deus sive natura“ Gott in ein philosophisches Prinzip verwandelte, in die wirkende Kraft in der Natur, die „natura naturans“. Ihre vormodern-metaphysische Problemlast hatten diese neuen Begriffe keineswegs abgeworfen, doch versprach ihr modernes Design, die alten metaphysischen Fragen wenigstens verschatten zu k"onnen. Das war die Art protestantischer ‚Privatreligion‘ (Goethes eigener Begriff: „Christenthum zu meinem Privatgebrauch“ [Goethe 1987, I/28: 306]), die schon Lessing f"ur sich in Anspruch genommen hatte, als der das anthropomorphe Wesen, das im Himmel s"asse und auf die Menschlein herabs"ahe, als religi"ose Zumutung abwies. Identifizieren konnte er sich hingegen mit Spinozas philosophischer Schwundstufe, mit einem Numinosen als wirkender Kraft, und meinte, damit auf dem Weg der Selbstbeschreibung der Vernunft im Projekt der Aufkl"arung einen grossen Schritt weitergekommen zu sein. Auch f"ur Goethe bleibt dieses salonf"ahige Numinose Spinozas letzter Garant einer Ordnungsstruktur in der Natur, ohne die ‚Evolution‘ nicht denkbar w"are.