Man versteht das Wissen in Russland gern als ein
Das trifft ganz und gar auf den Gr"undungsvater der russischen Komparatistik, die methodisch in viele Einzelphilologien ausstrahlte, zu, n"amlich auf Aleksandr Veselovskij. Seine
Veselovskij entwickelte seine Historische Poetik, nachdem er einige Jahrzehnte Entscheidendes zur europ"aischen M"archen- und Mythenforschung beigetragen hatte. Um Parallelph"anomene in der M"archenliteratur zu erkl"aren, bediente man sich in der zweiten H"alfte des 19. Jahrhunderts dreier unterschiedlicher Narrative, die f"ur drei methodologische Ans"atze stehen: Entweder wurden Parallelen unter dem Begriff ‚Archaik‘ anthropologisch aus Urformen der Mythologie hergeleitet oder aber geographisch-historisch aus dem Prinzip der ‚Migration‘ erkl"art oder schliesslich unter der Kategorie ‚Polygenese‘ aus vergleich-baren Entstehungsumst"anden ohne direkten interkulturellen Kontakt abgeleitet. Egal, welches Narrativ bedient wurde, allen Ans"atzen eignet ein universalhistorisch-holistischer Ansatz des Ganzen der Kultur, der eine Ordnungsstruktur eingeschrieben ist, die sich in Evolutionsgesetzen fassen l"asst.
Michajlov referiert diesen holistischen Grundzug der russischen Literaturwissenschaft mit einem stillen ironischen Genuss. In allen aktuellen westlichen Diskursen war er derart bewandert, dass er genau wusste, wie sein Zielpublikum auf diesen offen substantialistischen Begriff reagieren musste, dass dessen stets aktive poststrukturalistische Virenscanner auf „das Ganze“ sofort reagieren w"urden. Dennoch distanziert er sich nicht davon, im Gegenteil. Seine Erz"ahlungen davon, dass im russischen Umfeld „Nur-Germanisten“ kaum gedeihen konnten, dass man als Vertreter viel gr"osserer Einheiten, wie sie Veselovskij und Curtius vorschwebten, sein Fach auch gelegentlich wechseln konnte, indem man zum Beispiel wie Viktor Zirmunskij aus der Germanistik in die Indogermanistik fl"uchtete, best"atigen den holistischen Ansatz eher.
Noch bei Michajlov gilt also, dass von ‚Evolution‘ nur derjenige reden kann, der die holistisch-metaphysischen Pr"amissen dieses Begriffs bewusst akzeptiert. Gilt das auch f"ur die klassischen Evolutionstheoretiker, f"ur Ejchenbaum, Sklovskij, Tynjanov und ihre Mitstreiter? Ich meine, es gilt ganz uneingeschr"ankt.