Wenn sie im Lagerhaus schuftete, wenn sie an langen Abenden allein in ihrer winzigen Wohnung saß, zermarterte die Ostrakowa sich das Hirn darüber, wem sie sich anvertrauen könnte; einem Menschen, der weder verteufeln noch verhimmeln würde; der um die Ecken des Weges sehen könnte, den sie entlangging; und vor allem einem, der nicht sprechen und ihr damit- wie man ihr versichert hatte - alle Chancen verderben würde, Alexandra wiederzusehen. Plötzlich, eines Nachts, gab ihr entweder Gott oder ihr fieberhaft arbeitendes Gehirn die Antwort ein: der General ! dachte sie, setzte sich im Bett auf und knipste das Licht an.Ostrakow selbst hatte ihr von ihm erzählt! Diese Emigrantengruppen sind eine Katastrophe, hatte er immer gesagt, und man muß sie meiden, wie die Pest. Der einzige, dem man trauen kann, ist Wladimir, der General; er ist ein alter Teufel und ein Weiberheld, aber er ist ein ganzer Mann, er hat Beziehungen, und er kann den Mund halten.
Aber Ostrakow hatte dies vor etlichen zwanzig Jahren gesagt, und selbst alte Generale sind nicht unsterblich. Und außerdem -Wladimir, wer? Sie kannte nicht einmal seinen Familiennamen. Sogar den Vornamen Wladimir - so Ostrakow - hatte er sich seinerzeit für den Militärdienst zugelegt; denn sein echter Name war estnisch und untauglich zur Verwendung in der Roten Armee. Trotzdem machte sie sich am nächsten Tag zu dem Buchladen an der Sankt Alexander Newsky-Kathedrale auf, wo man oft Informationen über die dahinschwindende russische Kolonie erhalten konnte, und stellte ihre ersten Nachforschungen an. Sie erfuhr einen Namen und sogar eine Telefonnummer, aber keine Adresse. Das Telefon war abgeschaltet. Sie ging zur Post und redete so lange auf die Beamten ein, bis sie ein Telefonbuch von 1956 hervorzauberten, in dem die »Bewegung für die baltische Freiheit« eingetragen war, dahinter eine Adresse in Montparnasse. Die Ostrakowa war nicht auf den Kopf gefallen. Sie schlug im Straßenverzeichnis nach und fand unter der Adresse vier weitere Organisationen: die Riga-Gruppe, die Vereinigung der Opfer des Sowjet-Imperialismus, das Achtundvierziger-Komitee für ein freies Lettland und das Reval-Komitee für Freiheit. Obwohl sie sich lebhaft an Ostrakows bissige Bemerkungen über derartige Vereine erinnerte - seinen Beitrag hatte er aber trotz allem immer brav bezahlt -, ging sie zur angegebenen Adresse und klingelte. Das Haus war wie eine ihrer kleinen Kirchen: bizarr und scheinbar unbewohnt. Schließlich öffnete ein alter Weißrusse die Tür. Er trug eine schief zugeknöpfte Strickjacke, lehnte auf einem Spazierstock und sah sie von oben herab an.
Alle fort, sagte er und deutete mit dem Stock die kopfsteingepflasterte Straße entlang. Ausgezogen. Weg. Verdrängt von größeren Organisationen, fügte er hinzu und lachte. Zu wenig Leute, zu viele Gruppen, und sie zankten sich wie Kinder. Kein Wunder, daß der Zar besiegt worden ist! Der alte Weißrusse hatte ein Gebiss, das nicht paßte, und das spärliche Haar war über den ganzen Schädel gezogen, um die Glatze zu verbergen. Aber der General? fragte sie. Wo der General sei? Lebte er noch, oder war er -?
Der alte Russe feixte und fragte, ob es geschäftlich sei.