Als
sie an ihrer Bushaltestelle angekommen war, stellte sie die Tasche ab und
massierte sich mit der rechten Hand den Rücken, eine Bewegung, die sie in
letzter Zeit oft machte, obwohl sie ihr keine Erleichterung verschaffte. Der
hohe Hocker in dem Lagerhaus, wo sie jeden Vormittag als Aufsicht arbeitete,
hatte keine Lehne, und sie verspürte in zunehmendem Maß diese Unzulänglichkeit.
»Du Teufel!« apostrophierte sie den schuldigen Teil. Nachdem sie ihn gerieben
hatte, faltete sie die schwarzen Ellbogen nach hinten, wie eine alte
Stadtkrähe, die sich zum Fliegen anschickt. »Du Teufel«, wiederholte sie.
Plötzlich fühlte sie, daß sie beobachtet wurde. Sie schwenkte herum und lugte
zu dem massigen Mann hoch, der wie ein Turm vor ihr aufragte. Er war außer ihr
der einzige Mensch an der Haltestelle, ja sogar in der ganzen Straße. Sie hatte
nie mit ihm gesprochen, und doch war sein Gesicht ihr vertraut: so groß, so
weichlich, so verschwitzt. Sie hatte es gestern gesehen, sie hatte es
vorgestern gesehen und, soweit sie sich erinnern konnte - Herrgott, sie war
schließlich kein wandelndes Tagebuch! - auch vorvorgestern. Während der letzten
drei oder vier Tage war dieser schwächliche und nervöse Riese, wenn er so auf
einen Bus wartete oder vor dem Lagerhaus herumlungerte, für sie zu einer Figur
der Straßenszenerie geworden; mehr noch, er gehörte einem ganz bestimmten Typus
an, nur hatte sie ihn bis jetzt noch nicht einordnen können. Sie dachte, er
sehe
Der Fremde hatte sie schon seit geraumer Zeit angestarrt und glotzte sie weiterhin unentwegt an.
»Ich bin von Rückenschmerzen geplagt, Monsieur«, vertraute sie ihm schließlich in ihrem langsamen und klassisch ausgesprochenen Französisch an. »Der Rücken ist nicht groß, aber der Schmerz steht in keinem Verhältnis dazu. Sind Sie zufällig Arzt? Orthopäde?«
Dann
fragte sie sich, wie sie so an ihm hochsah, ob er nicht selber krank sei, und
sie einen schlechten Scherz gemacht habe. Sein Gesicht und Nacken glitzerten
ölig, und um seine willensschwachen wäßrigen Augen lag ein Zug blinder
Selbstbesessenheit. Er schien über sie hinweg auf einen eigenen Kummer zu
blicken. Sie wollte ihn schon danach fragen - sind Sie vielleicht verliebt,
Monsieur? - betrügt Ihre Frau Sie? - und zog bereits in Erwägung, ihn zu einem
Glas Mineralwasser oder einer
Er sprach französisch, aber sie wußte, daß er so wenig Franzose war, wie sie Französin, und die korrekte Aussprache ihres Namens mit dem Patronymikon verwies auf seine Herkunft. Sie erkannte sofort die verschliffene Redeweise und deren Ursache, die eigenartige Zungenbewegung, und sie identifizierte zu spät und mit beträchtlichem inneren Schauder den Typus, den sie nicht hatte bestimmen können.
»Wenn
schon - wer um alles in der Welt sind
Er schob sich einen Schritt näher. Der Größenunterschied wurde plötzlich beklemmend. Desgleichen das Maß, in dem die Züge des Mannes seinen unerfreulichen Charakter verrieten. Aus ihrer Froschperspektive sah die Ostrakowa seine Schwäche ebenso deutlich, wie seine Furcht. Sein schweißbedecktes Kinn hatte sich grimassierend nach vorn geschoben, die Mundwinkel waren nach unten gezogen, um Härte vorzutäuschen, aber sie wußte, daß er nur eine unheilbare Feigheit bannen wollte. Er sieht aus wie jemand, der sich zu einer Heldentat aufrafft, dachte sie. Oder zu einer Missetat. Er ist ein Mensch, der keiner spontanen Handlung fähig ist, dachte sie.
»Sie wurden in Leningrad am 8. Mai 1927 geboren?« fragte der Fremde.