Wahrscheinlich hatte sie »ja« gesagt. Sie war sich später dessen nicht ganz sicher. Sie sah, wie er sich wiederum mit der Zunge über die Lippen fuhr. Sie sah, wie sich seine blassen furchterfüllten Augen hoben und auf den näherkommenden Bus starrten. Sie sah, wie eine geradezu panikartige Unentschlossenheit von ihm Besitz ergriff, und sie hatte den Eindruck - der sich später als eine fast hellseherische Ahnung herausstellen sollte - daß er erwog, sie unter die Räder zu stoßen. Er tat es nicht, aber er stieß die nächste Frage auf Russisch hervor - im brutalen Moskauer Amtston:
»1956 erhielten Sie die Erlaubnis, die Sowjetunion zu verlassen zwecks Pflege Ihres kranken Ehemannes, des Verräters Ostrakow? Und auch zu gewissen anderen Zwecken?«
»Ostrakow war kein Verräter«, unterbrach sie ihn. »Er war Patriot.« Instinktiv hob sie die Einkaufstasche auf und umklammerte den Henkel mit ganzer Kraft.
Der Fremde redete ungerührt über diesen Einspruch hinweg, und sehr laut, um das Rattern des Busses zu übertönen. »Ostrakowa, ich bringe Ihnen Grüße von Ihrer Tochter aus Moskau, ferner von gewissen offiziellen Stellen. Ich möchte mit Ihnen über Ihre Tochter sprechen. Steigen Sie nicht ein.«
Der Bus hatte angehalten. Der Fahrer kannte sie und streckte die Hand nach ihrer Tasche aus. Der Fremde fügte mit gesenkter Stimme noch eine schreckliche Bemerkung hinzu: »Alexandra hat ernsthafte Schwierigkeiten, die des Beistands einer Mutter bedürfen.«
Der Fahrer forderte sie zum Einsteigen auf. Er tat es in dem ruppigen Ton, den sie beide sonst scherzhaft gebrauchten. »Los, Mütterchen! Zu heiß für die Liebe. Geben Sie mir Ihre Tasche, und ab die Post!«
Drinnen
ertönte Gelächter; dann schimpfte jemand - diese Alte hält den ganzen Betrieb
auf! Sie spürte die Hand des Fremden, der unbeholfen nach ihrem Arm griff, wie
ein linkischer Liebhaber, der nach den Knöpfen grapscht. Sie riß sich los. Sie
versuchte, dem Fahrer etwas zu sagen, brachte aber nichts heraus: Sie öffnete
den Mund, schien jedoch das Sprechen verlernt zu haben. Nur mit Mühe konnte
sie ein Kopfschütteln zustande bringen. Der Fahrer rief ihr noch etwas zu,
dann winkte er achselzuckend. Die Schimpfkanonade verstärkte sich - alte
Vettel, mittags schon besoffen, wie eine Hure! Regungslos sah die Ostrakowa zu,
wie der Bus abfuhr und verschwand; sie wartete, bis ihre Sicht wieder klarer
wurde und ihr Herz zu galoppieren aufhörte. Jetzt brauche
Sie folgte ihm schwer hinkend in ein Lokal. In einem Zwangsarbeitslager hatte sie sich vor genau fünfundzwanzig Jahren bei einem Kohlenschlipf im Bergwerk das Bein an drei Stellen gebrochen. Am heutigen vierten August - das Datum war ihr nicht entfallen - war unter dem grausamen Schlag, den die Mitteilung des Fremden ihr versetzt hatte, wieder das Gefühl des Verkrüppeltseins über sie gekommen.