»Außerdem ist es eine barbarische Gepflogenheit und eine, die dem König noch bald genug Kummer bereiten wird. Aber egal, wie das in Renere gehandhabt wird, in meiner Stadt, meiner Burg und meinem Garten wirst du nicht bewaffnet vor mich treten.« Er sah mich mit einem strengen Blick an.
»Bitte entschuldigt, wenn ich Euch gekränkt habe, Euer Gnaden.« Ich blieb stehen und verbeugte mich tiefer, als ich es bei unserer Begrüßung getan hatte.
Meine so offenkundige Zerknirschung schien ihn zu besänftigen. Er lächelte und legte mir die Hand auf die Schulter. »Lassen wir das. Sieh dir lieber das Trauerfeuer an. Die Blätter werden sich bald verfärben.«
Wir spazierten eine Stunde lang und plauderten über verschiedene Belanglosigkeiten. Ich war stets höflich, und Alverons Laune besserte sich zusehends. Wenn ich ihm um den Bart gehen musste, um mich seiner Gunst zu versichern, war das ein kleiner Preis.
»Ich muss sagen, dass die Ehe Euer Gnaden gut bekommt.«
»Danke.« Er nickte gnädig. »Ich fühle mich auch sehr wohl.«
»Und Ihr erfreut Euch weiterhin guter Gesundheit?«, fragte ich. Die Frage sprengte den Rahmen eines öffentlichen Gespräches schon fast.
»Bester Gesundheit, auch das gewiss eine Auswirkung des Ehelebens.« Sein Blick gab mir zu verstehen, dass ich zumindest an einem so öffentlichen Ort wie dem Garten keine weiteren Fragen dazu stellen sollte.
Wir setzten unseren Spaziergang fort und nickten den Adligen zu, denen wir begegneten. Der Maer plauderte über Gerüchte bei Hof. Ich spielte mit und trug meinen Teil zum Gespräch bei. In Wirklichkeit wollte ich es rasch hinter mich bringen, damit wir eine ernsthafte Unterredung unter vier Augen führen konnten.
Doch ich wusste, dass Alveron sich nicht drängen ließ. Unsere Gespräche folgten einem festen Ritual. Wenn ich dagegen verstieß, ärgerte ich ihn nur. Also übte ich mich in Geduld, roch an den Blumen und tat, als interessierte ich mich für den Hofklatsch.
Nach einer weiteren Viertelstunde entstand, wie es für unsere Gespräche typisch war, eine Pause. Als Nächstes würde Alveron mich zu einem strittigen Thema befragen und dann würden wir uns an einen Ort zurückziehen, wo wir ungestört über wichtige Dinge reden konnten.
»Ich war immer der Ansicht«, begann Alveron endlich mit dem Thema unserer Diskussion, »dass jeder Mensch in seinem Innersten eine Frage mit sich herumträgt.«
»Wie meint Ihr das, Euer Gnaden?«
»Ich glaube, jeder Mensch wird von einer Frage umgetrieben. Einer Frage, die ihn nachts wach hält und an der er herumnagt wie ein Hund an einem alten Knochen. Wer diese Frage kennt, kennt auch den betreffenden Menschen besser.« Er warf mir einen Blick von der Seite zu und lächelte ein wenig. »Zumindest meine ich das schon immer.«
Ich überlegte einen Moment lang. »Da würde ich Euch zustimmen, Euer Gnaden.«
Alveron hob die Augenbrauen. »So schnell?« Er klang ein wenig enttäuscht. »Ich hatte mit mehr Widerspruch gerechnet.«
Ich schüttelte den Kopf, froh über die Gelegenheit, meinerseits ein Thema anschneiden zu können. »Mich selbst beschäftigt seit einigen Jahren eine ganz bestimmte Frage und das wird meiner Einschätzung nach auch noch einige Zeit so bleiben. Deshalb leuchtet mir vollkommen ein, was Ihr sagt.«
»Wirklich?«, fragte er neugierig. »Was für eine Frage denn?«
Ich überlegte, ob ich ihm die Wahrheit sagen sollte. Dass ich die Chandrian suchte, die meine Familie getötet hatten. Doch das kam nicht wirklich in Frage. Dieses Geheimnis lag immer noch schwer wie ein großer Stein auf dem Grund meines Herzens begraben. Es war so persönlich, dass ich es einem intelligenten und schlauen Menschen wie dem Maer nicht anvertrauen konnte. Außerdem hätte ich damit meine Herkunft von den Edema Ruh preisgegeben, von der bisher noch niemand am Hof des Maer etwas ahnte. Der Maer wusste zwar, dass ich nicht dem Adel angehörte, aber keineswegs, dass meine Abstammung so gering war.
»Es muss sich um eine gewichtige Frage handeln, wenn du so lange überlegst«, scherzte Alveron auf mein Zögern hin. »Sage sie mir, ich bestehe darauf. Ich biete dir sogar einen Tausch an: eine Frage für eine Frage. Vielleicht können wir einander zu einer Antwort verhelfen.«
Auf eine schönere Ermutigung konnte ich nicht hoffen. Ich dachte noch kurz nach und wählte meine Worte dann mit Bedacht. »Wo sind die Amyr?«
»Die Amyr mit den blutigen Händen«, murmelte Alveron. Er musterte mich von der Seite. »Du fragst wahrscheinlich nicht, wo ihre Gebeine ruhen?«
»Nein, Euer Gnaden«, sagte ich ernst.
Er wurde nachdenklich. »Interessant.« Ich atmete erleichtert auf, denn ich hatte schon halb mit einer oberflächlichen Antwort gerechnet, etwa, dass die Amyr seit Jahrhunderten tot seien. Stattdessen sagte der Maer: »Ich habe mich nämlich in meiner Jugend eingehend mit den Amyr beschäftigt.«
»Wirklich, Euer Gnaden?«, fragte ich, ganz überrascht von diesem Zufall.