»Der Schutzbrief wurde gestohlen, Euer Gnaden. Die Leute, denen ich auf der Straße begegnete, hatten eine Truppe von Ruh ermordet und ihren Platz eingenommen.«
Der Maer musterte mich neugierig. »Du scheinst dir dessen ja sehr sicher zu sein.«
»Einer von ihnen sagte es mir, Euer Gnaden. Er gab zu, dass sie nur so tun würden, als seien sie Schauspieler. Sie gaben vor, Ruh zu sein.«
Meluan schien zwischen Verwirrung und Verständnislosigkeit hin- und hergerissen. »Warum sollten sie das tun?«
Alveron nickte. »Meine Frau hat recht. Wahrscheinlich haben sie dich angelogen. Das will doch niemand sein. Wer würde sich freiwillig als ein Edema Ruh ausgeben?«
Mir wurde innerlich ganz heiß, und ich schämte mich plötzlich, dass ich mich bisher nicht zu meiner Zugehörigkeit zu den Edema Ruh bekannt hatte. »Ich bezweifle nicht, dass die ursprünglichen Schauspieler Eurer Truppe Edema Ruh waren, Euer Gnaden. Aber die Banditen, die ich getötet habe, waren keine. Kein Ruh würde tun, was sie getan haben.«
In Meluans Augen trat ein wütendes Funkeln. »Du kennst sie nicht.«
Ich erwiderte ihren Blick. »Ich glaube, ich kenne sie sehr gut, gnädige Frau.«
»Aber warum?«, fragte Alveron. »Warum sollte sich ein normaler Mensch als Edema Ruh ausgeben?«
»Weil es das Reisen erleichtert«, sagte ich. »Und weil Euer Name ihn schützt.«
Alveron tat meine Erklärung mit einem Schulterzucken ab. »Deine Banditen waren wahrscheinlich Ruh, die es leid waren, ehrlich zu arbeiten, und sich lieber als Diebe betätigten.«
»Nein, Euer Gnaden«, beharrte ich. »Sie waren keine Edema Ruh.«
Alveron sah mich vorwurfsvoll an. »Also bitte, wer könnte zwischen Banditen und einer Truppe von Ruh unterscheiden?«
»Es gibt keinen Unterschied«, warf Meluan beißend ein.
»Ich kann es, Euer Gnaden«, sagte ich heftig. »Ich bin selbst ein Edema Ruh.«
Schweigen. Auf Meluans Gesicht malten sich nacheinander Fassungslosigkeit, Unglaube, Empörung und Abscheu. Sie stand auf, sah einen Moment lang so aus, als wollte sie mich anspucken, und rauschte dann hinaus. Aus dem Vorzimmer ertönte ein Rasseln. Ihr Leibwächter hatte Haltung angenommen und folgte ihr nach draußen.
Alveron starrte mich mit finsterem Gesicht an. »Wenn das ein Scherz sein soll, dann war es ein schlechter.«
»Es ist keiner, Euer Gnaden«, antwortete ich, meinen Zorn niederkämpfend.
»Und warum hast du es bisher für notwendig gehalten, mir das zu verheimlichen?«
»Ich habe es Euch nicht verheimlicht, Euer Gnaden. Ihr habt selbst wiederholt gesagt, dass ich keineswegs von vornehmer Abstammung bin.«
Alveron schlug zornig auf die Armlehne seines Sessels. »Du weißt genau, was ich meine! Warum hast du mir nicht gesagt, dass du ein Ruh bist?«
»Ich denke, der Grund liegt auf der Hand, Euer Gnaden«, antwortete ich mühsam beherrscht. »Die Worte ›Edema Ruh‹ haben für viele adlige Nasen einen zu starken Geruch. Eure Frau hat festgestellt, dass ihr Parfüm ihn nicht zu überdecken vermag.«
»Meine Frau hat in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit den Ruh gemacht«, erwiderte Alveron. »Nimm das bitte zur Kenntnis.«
»Ich weiß von ihrer Schwester, von der schrecklichen Schande ihrer Familie. Mit einem fahrenden Schauspieler durchgebrannt, weil sie sich in ihn verliebt hatte, wie schrecklich«, sagte ich schneidend. Ich bebte am ganzen Körper vor Wut. »Die Einsicht der Schwester gereicht der Familie zur Ehre, das Vorurteil Eurer Gattin nicht. Ich bin nicht weniger wert als andere Menschen und mehr als die meisten. Und selbst wenn es nicht so wäre, hätte Eure Gattin doch kein Recht, mich so zu behandeln.«
Alveron presste die Lippen zusammen. »Ich denke, sie kann dich behandeln, wie sie will«, sagte er. »Deine unerwartete Erklärung hat sie erschreckt. Angesichts ihrer Gefühle für derlei Gesindel hat sie sich meiner Meinung nach bemerkenswert zurückgehalten.«
»Ich glaube, sie kann die Wahrheit nicht ertragen. Dass nämlich die Worte eines fahrenden Schauspielers sie schneller ins Bett gebracht haben als ihre Schwester.«
Kaum hatte ich es gesagt, wusste ich, dass ich zu weit gegangen war. Ich biss die Zähne zusammen, um nicht noch etwas Schlimmeres zu sagen.
»Das reicht«, sagte Alveron kalt und förmlich. Seine Augen brannten vor Zorn.
Ich ging mit aller Würde, die ich in meiner Erregung noch aufbringen konnte. Ich ging nicht, weil ich nichts mehr zu sagen gehabt hätte, sondern weil Alveron die Wachen gerufen hätte, wäre ich auch nur einen Moment länger geblieben. Einen solchen Abgang aber wollte ich mir ersparen.
Kapitel 140
Gerechter Lohn
Am folgenden Morgen war ich gerade dabei, mich anzukleiden, als ein Laufjunge einen dicken Umschlag mit Alverons Siegel überbrachte. Ich setzte mich ans Fenster. Der Umschlag enthielt gleich mehrere Briefe. Der zuoberst lautete: