Gott, wie lange hatte sie sich Fragen über die junge Frau gestellt, die sie zur Welt gebracht hatte? Wie viele Szenarien hatte sie sich ausgedacht, um zumindest sich selbst zu erklären, was wohl in der Nacht geschehen war, in der sie als Säugling auf der Straße gefunden wurde? Niemals wäre sie auf so etwas gekommen.
„Wie hieß sie?“
„Ich weiß es nicht. Es war mir gleichgültig. Sie war nur ein weiteres Opfer der Rogues. Ich habe nicht mehr an die ganze Geschichte gedacht, bis du vorhin in deiner Wohnung deine Mutter erwähnt hast.“
„Und ich?“, fragte sie im Versuch, alle Stücke des Puzzles zusammenzusetzen. „Als du mich das erste Mal besucht hast, nach dem Mord, den ich gesehen hatte, wusstest du da, dass ich das Baby war, das du gerettet hattest?“
Er ließ ein trockenes Lachen ertönen. „Ich hatte keine Ahnung. Ich kam zu dir, weil ich beim Nachtclub deinen Jasminduft gerochen habe und dich wollte. Ich musste wissen, ob dein Blut so süß schmeckte, wie der Rest von dir roch.“
Diese Worte ließen sie an all den Genuss denken, den Lucan ihr mit seinem Körper bereitet hatte. Nun fragte sie sich, wie es sich angefühlt hätte, ihn an ihrem Hals saugen zu lassen, während er in sie eindrang. Schockiert stellte sie fest, dass sie darauf mehr als nur neugierig war. „Aber das hast du nicht getan. Du hast nicht …“
„Und das werde ich auch nicht“, entgegnete er knapp. Ein weiterer Fluch drang aus der Dunkelheit zu ihr herüber. Diesmal war es mehr ein gequältes Fauchen. „Ich hätte dich nie angerührt, wenn ich gewusst hätte …“
„Wenn du was gewusst hättest?“
„Nichts, vergiss es. Es ist nur … o Gott, mein Schädel pocht zu sehr, als dass ich reden könnte. Verschwinde einfach. Lass mich jetzt allein.“
Gabrielle blieb, wo sie war. Sie hörte, wie er sich wieder bewegte, mit einem steifen Schlurfen seiner Füße. Und dann ein erneutes grollendes, animalisches Knurren.
„Lucan? Geht es dir gut?“
„Alles okay“, knurrte er. Es klang allerdings überhaupt nicht danach. „Ich brauche … äh, verdammt.“ Sein Atem ging nun schwer und stoßweise, fast keuchte er. „Verschwinde, Gabrielle. Ich muss … allein sein.“
Etwas Schweres fiel mit einem dumpfen Knall auf den mit Teppich belegten Fußboden. Lucan stieß einen Fluch aus und stöhnte.
„Ich glaube nicht, dass du jetzt allein sein musst. Ich glaube, dass du Hilfe brauchst. Und ich kann nicht die ganze Zeit im Dunkeln mit dir reden.“ Gabrielle tastete mit der Hand an der Wand entlang und suchte blind nach einer Lichtquelle. „Ich kann nichts sehen –“
Ihre Finger ertasteten einen Lichtschalter und knipsten ihn an.
Lucan lag verkrümmt neben einem Kingsize-Bett auf dem Boden. Sein Hemd und seine Stiefel waren ausgezogen, und er wand sich, als habe er starke Schmerzen. Die Male auf seinem nackten Rücken und seinem Torso waren grell verfärbt. Die komplizierten Wirbel und Bögen wechselten von tiefem Violett über Rottöne bis ins Schwarze, während er sich in Krämpfen krümmte und seinen Unterleib umklammerte.
Gabrielle eilte hin und kniete sich neben ihn. Lucans Körper zog sich brutal zusammen, sodass er sich zu einer festen Kugel zusammenrollte.
„Lucan! Was ist los?“
„Verschwinde.“ Er fauchte, als sie ihn zu berühren versuchte, knurrte wild und schlug um sich wie ein verwundetes Tier. „Weg! Das … geht dich nichts an.“
„Vergiss es!“
„Verschw…
Panik schüttelte sie, als sie sah, wie er vor Schmerzen um sich schlug. „Was passiert mit dir? Sag mir, was ich tun soll!“
Er warf sich auf den Rücken, als hätten ihn unsichtbare Hände herumgeschleudert. Die Sehnen an seinem Hals waren so straff gespannt wie Kabel. Venen und Arterien wölbten sich an seinen Bizepsen und Unterarmen. Seine Lippen waren zu einer zähnefletschenden Grimasse verzogen und entblößten die scharfen weißen Fänge. „Gabrielle, verschwinde, verdammt noch mal!“
Sie zog sich ein Stückchen zurück, um ihm etwas Platz zu lassen, aber sie hatte nicht die Absicht, ihn hier allein ohne Hilfe leiden zu lassen. „Soll ich dir jemanden holen? Ich kann gehen und Gideon Bescheid sagen –“
„Nein! Nichts sagen … geht nicht. Niemandem.“ Als er Gabrielle kurz anblickte, sah sie, dass seine Pupillen nur noch dünne schwarze Schlitze waren, halb verschlungen von Seen aus glühendem Goldgelb. Dieser wilde Raubtierblick fiel auf ihren Hals. Und heftete sich auf die Stelle, an der sie ihren eigenen Puls hämmern fühlte. Dann schauderte Lucan und presste seine Augen fest zu. „Es geht vorbei. Das tut es immer … irgendwann.“
Wie zum Beweis begann er sich langsam aufzurappeln. Es sah sehr mühsam und schwerfällig aus. Aber als sie ihm zu helfen versuchte, überzeugte sie das Knurren, das er in ihre Richtung schickte, und sie ließ hastig von ihm ab. Mit wahnsinniger Willenskraft stemmte er sich hoch und fiel dann auf der Bettkante auf den Bauch. Er keuchte schwer, und sein Körper war noch immer völlig verkrampft.
„Gibt es irgendwas, was ich tun kann?“