„Das ist bei jedem anders. Manchmal schreitet die Krankheit ganz allmählich fort. Der Hunger wächst, also stillst du ihn. Du stillst ihn, wann immer er ruft, und eines Nachts wird dir bewusst, dass das Bedürfnis niemals gestillt ist. Bei anderen kann schon ein einziger unvorsichtiger Genuss dafür sorgen, dass sie die Grenze überschreiten.“
„Und wie ist es bei dir?“
Sein Lächeln fühlte sich angespannt an, mehr wie ein Fletschen seiner Zähne und Fangzähne. „Ich habe die zweifelhafte Ehre, dass in meinen Adern das Blut meines Vaters fließt. Auch wenn die Rogues Bestien sind, sind sie Waisenkinder im Vergleich zu der Geißel, von der unser Volk abstammt. Für Gen-Eins-Angehörige ist die Versuchung immer gegenwärtig. Sie brodelt wilder in uns als in jedem anderen. Um die Wahrheit zu sagen – ich musste seit meinem ersten Schluck gegen die Blutgier ankämpfen.“
„Du hast also ein Problem, aber zumindest letzte Nacht hast du es überstanden.“
„Ich war imstande, es im Zaum zu halten, was zu einem großen Teil dir zu verdanken ist, aber es wird jedes Mal schlimmer.“
„Du kannst es wieder schaffen. Wir werden es gemeinsam durchstehen.“
„Du kennst meine Geschichte nicht. Ich habe bereits meine beiden Brüder an die Krankheit verloren.“
„Wann?“
„Vor sehr langer Zeit.“ Sein Blick war finster, als er an eine Vergangenheit zurückdachte, die er nicht ans Licht zerren wollte. Aber die Worte kamen schnell über seine Lippen, ob er nun wollte oder nicht. „Evran, der Mittlere von uns dreien, wurde zum Rogue, kurz nachdem er erwachsen war. Er fand den Tod in einem der alten Kriege zwischen dem Stamm und den Rogues. Doch er kämpfte für die falsche Seite. Marek war der Älteste und Furchtloseste. Er, Tegan und ich gehörten zu dem ersten Kader von Stammeskriegern, die sich gegen die letzten Alten und ihre Rogues-Armeen erhoben. Wir gründeten den Orden etwa zur Zeit der großen Pest in Europa. Weniger als hundert Jahre später gewann die Blutgier die Oberhand über Marek, und er suchte die Sonne auf, um seinem Elend ein Ende zu setzen. Selbst Tegan ist der Sucht vor langer Zeit nur knapp entgangen.“
„Das tut mir leid“, sagte Gabrielle sanft. „Du hast so viel an die Blutgier verloren. Und an diesen Krieg mit den Rogues. Ich verstehe, warum du Angst davor hast.“
Ihm lag eine schnoddrige Bemerkung auf der Zunge – irgendein Schwachsinn, den er ohne Zögern jedem Krieger aufgetischt hätte, der unverschämt genug war, anzudeuten, dass er, Lucan, vor irgendetwas Angst hatte. Aber die abschätzige Erwiderung blieb ihm im Hals stecken, als er Gabrielle ansah. Er wusste, dass sie ihn sehr gut verstand, besser als alle anderen, die er in seiner langen Existenz gekannt hatte.
Sie kannte ihn auf einer Ebene, die noch nie jemand erreicht hatte, und ein Teil von ihm würde das vermissen, wenn die Zeit gekommen war, sie in ihre Zukunft zu den Dunklen Häfen zu schicken.
„Mir war nicht klar, dass die Geschichte zwischen dir und Tegan so lange zurückreicht“, meinte Gabrielle. „Du hast ihn bis letzte Nacht noch nie erwähnt.“
„Die Geschichte zwischen ihm und mir führt ganz bis an den Anfang zurück. Wir sind beide Gen-Eins-Angehörige und haben beide einen Eid geleistet, unser Volk zu verteidigen.“
„Aber ihr seid keine Freunde.“
„Freunde?“ Lucan lachte, als er an die jahrhundertelange Feindseligkeit dachte, die zwischen ihnen beiden herrschte. „Tegan hat keine Freunde. Und wenn er welche hätte, würde er mich todsicher nicht dazu zählen.“
„Und warum lässt du ihn dann hier bleiben?“
„Er ist einer der besten Krieger, die ich je gekannt habe. Seine Verpflichtung gegenüber dem Orden sitzt tiefer als jeder Hass, den er mir gegenüber hegt. Wir teilen den Glauben, dass nichts wichtiger ist, als die Zukunft des Stammes zu schützen.“
„Nicht einmal Liebe?“
Einen Moment lang wusste er nichts zu sagen. Er war nicht vorbereitet auf ihre offene Frage und nicht willens, darüber nachzudenken. Er verfügte über keine Erfahrung mit diesem besonderen Gefühl. Aufgrund der Art, wie sein Leben im Augenblick verlief, wollte er in die Nähe von nichts kommen, was ihr auch nur ähnelte. „Liebe ist für die Männer gedacht, die ein einfaches Leben in den Dunklen Häfen wählen. Nicht für Krieger.“
„Manche der anderen in diesem Quartier würden darüber wohl mit dir streiten.“
Er begegnete ihrem Blick ruhig. „Ich bin nicht sie.“
Ihr Gesicht wurde düster, und lange Wimpern verbargen ihre Augen vor seinem Blick. „Und zu was macht mich das alles? Bin ich bloß eine Anlaufstelle, wo du dir die Zeit zwischen den Rogues-Jagden vertreibst, damit du dir länger vormachen kannst, du hättest alles unter Kontrolle?“ Als sie ihn wieder ansah, standen Tränen in ihren Augen. „Bin ich nur ein kleines Spielzeug, dem du dich kurzfristig zuwendest, wenn du das Bedürfnis nach Sex hast?“
„Ich habe von dir keine Beschwerden gehört.“