„Mein Gott“, keuchte Gabrielle erstaunt. „Das hat er mir nie erzählt, nichts davon. Als ich ihn später in dieser Nacht sah, nur wenige Stunden später, wirkte er auf mich ziemlich normal. Also, was ich meine, ist, dass er aussah und handelte, als ob alles mit ihm in Ordnung wäre.“
„Lucans fast reine Blutlinie lässt ihn am meisten leiden, aber sie hilft ihm auch dabei, sich rasch wieder zu erholen. Trotzdem war es schwer für ihn, und er brauchte vermutlich eine Menge Blut, um die Reserven seines Organismus nach solchen Verletzungen wieder aufzufüllen. Als es ihm gut genug ging, dass er das Quartier verlassen konnte, um zu jagen, war er wohl völlig ausgehungert.“
Ja, genau das war der Fall gewesen, wie Gabrielle nun verstand. Die Erinnerung daran, wie er den Lakaien ausgesaugt hatte, schoss ihr durch den Kopf, aber nun hatte sie einen anderen Zusammenhang. Es erschien ihr nicht mehr als der widerwärtige Akt, nach dem es oberflächlich ausgesehen hatte, sondern als Mittel, um zu überleben. Alles bekam einen anderen Zusammenhang, seit sie Lucan kennengelernt hatte.
Am Anfang hatte sie den Krieg zwischen dem Stamm und seinen Feinden nur als einen Kampf zwischen Böse und noch Böser angesehen, aber mittlerweile hatte sie das Gefühl, dass es sich dabei auch um ihre Schlacht handelte. Sie hatte Anteil an ihrem Ergebnis, und das nicht nur, weil ihre Zukunft offenbar mit dieser fremdartigen Welt verknüpft war. Es war ihr wichtig, dass Lucan gewann – nicht nur den Krieg gegen die Rogues, sondern auch den ebenso verheerenden, sehr persönlichen Krieg, den er insgeheim austrug.
Sie machte sich Sorgen um ihn und konnte die nagende Angst nicht aus ihren Gedanken verbannen, die ihr eine Gänsehaut verursachte, seit er und die anderen Krieger das Quartier verlassen hatten, um ihren Angriff durchzuführen.
„Sie lieben ihn sehr, nicht wahr?“, fragte Danika, als Gabrielles besorgtes Schweigen sich zwischen ihnen ausdehnte.
„Ja, das tue ich.“ Sie begegnete dem Blick der anderen Frau und sah keinen Grund, die Wahrheit zu verbergen, zumal sie ihr wahrscheinlich ins Gesicht geschrieben stand. „Kann ich Ihnen etwas sagen, Danika? Ich habe so ein schreckliches Gefühl wegen dieses Vorhabens heute Nacht. Um es noch schlimmer zu machen, sagte Tegan zu mir, er glaubt nicht, dass Lucan noch lange leben wird. Je länger ich hier unwissend herumsitze, desto mehr Angst habe ich, dass er recht haben könnte.“
Danika runzelte die Stirn. „Sie haben mit Tegan gesprochen?“
„Ich bin ihm – buchstäblich – vorhin in die Arme gelaufen. Er hat mir gesagt, ich soll mich nicht zu sehr an Lucan hängen.“
„Weil er denkt, Lucan wird sterben?“ Danika atmete tief aus und schüttelte den Kopf. „Dieser Kerl scheint es zu genießen, andere Leute nervös zu machen. Wahrscheinlich hat er das nur gesagt, weil er wusste, dass es Sie aufregen würde.“
„Lucan hat erwähnt, dass es zwischen ihnen böses Blut gibt. Denken Sie, Tegan ist vertrauenswürdig?“
Die blonde Stammesgefährtin schien einen Moment darüber nachzudenken. „Ich kann Ihnen sagen, dass Loyalität einen Großteil des Kodex der Krieger ausmacht. Er bedeutet diesen Männern alles, jedem von ihnen. Nichts auf der Welt könnte sie dazu bringen, gegen diese heilige Pflicht zu verstoßen.“ Danika erhob sich und nahm Gabrielles Hand in ihre. „Kommen Sie. Lassen Sie uns Eva und Savannah finden. Das Warten geht für uns alle schneller vorbei, wenn wir die Zeit nicht alleine verbringen.“
Von ihrem Beobachtungspunkt auf dem Dach eines der Hafengebäude sahen Lucan und die anderen Krieger zu, wie ein Kleintransporter donnernd vor ihrem Zielort hielt, wobei er Kies unter seinen glänzenden Chromfelgen aufspritzen ließ. Der Fahrer war ein Mensch. Wenn sein Geruch nach Schweiß und leichter Angst ihn nicht angekündigt hätte, dann hätte es ganz sicher die Countrymusik getan, die aus seinem geöffneten Fenster dröhnte. Er stieg aus dem Fahrzeug und lud sich eine gefüllte braune Papiertüte auf die Arme, aus der es nach dampfendem gebratenem Reis und Schweinefleisch Lo Mein stank.
„Sieht so aus, als wollten die Jungs heute zu Hause essen“, meinte Dante gedehnt, während der ahnungslose Ausfahrer den flatternden weißen Zettel überprüfte, der an die Bestellung geheftet war, und sich zunehmend argwöhnisch auf dem verlassenen Kai umsah.
Der Fahrer näherte sich der Eingangstür des Lagerhauses und warf wieder einen nervösen Blick um sich, dann stieß er im Dunkel einen Fluch aus und drückte den Summer. Im Gebäude brannte kein Licht; es gab nur den gelben Schein von der nackten Glühbirne über der Tür. Die zerbeulte Stahltür dahinter öffnete sich. Lucan konnte die wilden Augen eines Rogue erkennen. In einem hektischen Stakkato sprudelte der Ausfahrer den Umfang und die Gesamtsumme der Bestellung hervor und hielt die Tüte in den Ausschnitt aus Dunkelheit, der sich vor ihm befand.
„Was denn für’n Handel?“, fragte der Stadtcowboy laut. „Was zum Teufel –“