Sie wanderte eine Böschung hinunter, auf die Vorderseite des Gebäudes zu, und fand, wonach sie gesucht hatte: Hölzerne Fensterläden verbargen drei tief liegende Fenster, die wahrscheinlich zu einem Vorratsraum oder einem Kriechboden des Gebäudes führten. Die rostigen Riegel der Läden waren korrodiert, aber nicht verschlossen, und sie ließen sich, mithilfe eines Steins, den Gabrielle in der Nähe fand, ganz leicht abbrechen. Sie zog den hölzernen Laden von dem Fenster, hob die schwere Glasscheibe an und hielt sie mit der Fensterverstrebung offen.
Nach einem flüchtigen Blick im Lichtkegel ihrer Taschenlampe, um sicherzugehen, dass der Raum leer war und nicht über ihr zusammenbrechen würde, kletterte sie durch die Öffnung. Als sie von dem Fenstersims heruntersprang, knirschten die Sohlen ihrer Stiefel auf einer dicken Schicht aus zerbrochenem Glas, Staub und Schutt, die sich seit Jahren dort angesammelt hatten. Das Fundament aus grauen Schlackenbacksteinen reichte etwa dreieinhalb Meter tief und verschwand in der Schwärze der unbeleuchteten Kellerzwischendecke. Gabrielle schaltete ihre Taschenlampe wieder ein und ließ den dünnen Lichtstrahl in die Schatten am anderen Ende des Raumes wandern. Dann leuchtete sie die Wand entlang und hielt die Lampe ruhig, als sie auf eine kaputte alte Tür zum Versorgungsbereich stieß, auf die mithilfe einer Schablone die Worte
„Wollen wir wetten?“, flüsterte sie, während sie sich der Tür näherte und sie unverschlossen vorfand.
Gabrielle öffnete sie und leuchtete mit der Taschenlampe auf die andere Seite, die aus einem langen, tunnelähnlichen Gang bestand. Zerbrochene Leuchtstoffröhren hingen an der Decke, einige der Glasabdeckungen waren auf den Boden gefallen und lagen nun in Scherben und voller Staub auf dem Linoleumboden. Gabrielle betrat den dunklen Ort, nicht sicher, wonach sie eigentlich suchte, und mit ein wenig Angst vor dem, was sie möglicherweise in den verlassenen Eingeweiden der Nervenheilanstalt finden würde.
Sie ging an einem offenen Raum vorbei, in den man von dem Gang aus hineinblicken konnte. Da streifte der Schein ihrer Taschenlampe einen abgenutzten Zahnarztstuhl aus rotem Vinyl, der in der Mitte des Raumes stand, als würde der nächste Patient jeden Moment hineinkommen. Gabrielle nahm ihre Kamera aus ihrer Tasche und machte schnell ein paar Aufnahmen. Dann ging sie weiter, an weiteren Untersuchungs- und Behandlungsräumen vorbei. Vermutlich war dies hier also der medizinische Flügel des Gebäudes gewesen. Sie kam zu einem Treppenhaus und stieg zwei Treppen hoch, froh, sich in dem Hauptturm wiederzufinden, wo große Fenster das sanfte Morgenlicht hereinließen.
Mit dem Objektiv der Kamera überblickte sie große Rasenflächen und breite Innenhöfe, flankiert von den eleganten Backstein- und Kalksteingebäuden. Sie machte ein paar Bilder von der verblassten Pracht des Ortes, die die Architektur und das Spiel des Sonnenlichts mit den gespenstischen Schatten würdigten. Es war seltsam, aus dem Inneren eines Gebäudes zu blicken, das früher einmal so viele verwirrte Seelen beherbergt hatte. In der unheimlichen Stille konnte Gabrielle beinahe die Stimmen der Patientinnen und Patienten hören, Leute, die nicht in der Lage gewesen waren, den Ort so einfach zu verlassen, wie sie es jetzt konnte.
Leute wie ihre leibliche Mutter, eine Frau, die Gabrielle niemals gekannt hatte. Sie hatte als Kind lediglich ein paar Dinge in halblaut geführten Gesprächen zwischen Sozialarbeitern und den Pflegefamilien aufgeschnappt, die sie schließlich, eine nach der anderen, wieder in die staatliche Fürsorge zurückgeschickt hatten, so wie ein Haustier, das mehr Arbeit verursachte, als es wert war. Sie hatte den Überblick über die einzelnen Familien verloren, zu denen sie geschickt worden war. Die Klagen, die man über sie äußerte, wenn sie zurückgebracht wurde, waren immer die gleichen: Sie sei rastlos und introvertiert, ohne jedes Vertrauen, sozial gestört, mit selbstzerstörerischen Neigungen. Sie hatte die gleichen Bezeichnungen über ihre Mutter gehört, nur dass dieser noch zusätzlich Wahnvorstellungen zugeschrieben wurden.
Als die Maxwells in ihr Leben traten, hatte Gabrielle neunzig Tage in einem Heim unter der Aufsicht einer staatlich geprüften Psychologin verbracht. Sie hatte absolut nicht erwartet und noch viel weniger gehofft, dass sie in einer neuen Pflegefamilie tatsächlich auf Dauer bleiben könnte. Eigentlich hatte sie den Zeitpunkt, an dem sie das noch belastet hatte, längst hinter sich gelassen. Aber ihre neuen Erziehungsberechtigten waren geduldig und freundlich gewesen. Da sie gedacht hatten, es könne ihr möglicherweise dabei helfen, mit ihrer verwirrten Gefühlswelt zurechtzukommen, hatten sie Gabrielle darin unterstützt, einige Gerichtsdokumente zu erlangen, die ihre Mutter betrafen.