Unter dem bunten, geschäftigen Treiben auf der Straße lag eine andere Welt verborgen. Etwa neunzig Meter unter der Erde, unter einem stark gesicherten großen Haus, beugte sich Lucan Thorne im Hauptquartier der Krieger des Stammes über einen Flachbildschirm und murmelte einen deftigen Fluch. Das Vampir-Identifizierungsprogramm lief mit der Geschwindigkeit von Maschinengewehrsalven über das Display des Monitors, während ein Computerprogramm eine riesige internationale Datenbank nach Gegenstücken der Fotos durchsuchte, die Gabrielle Maxwell gemacht hatte.
„Noch nichts?“, fragte er und warf Gideon, der den Computer bediente, einen ungeduldigen Blick zu.
„Bisher rein gar nichts. Aber mein Suchlauf läuft noch. IID hat ein paar Millionen Unterlagen, die durchsucht werden müssen.“ Die scharfen blauen Augen des Vampirs blitzten über dem Rand einer eleganten silbernen Sonnenbrille auf. „Ich werde deine Scheißkerle schon erwischen, mach dir keine Sorgen.“
„Ich mache mir nie Sorgen“, erwiderte Lucan, und er meinte es wirklich so. Gideon besaß einen außergewöhnlich hohen Intelligenzquotienten, dazu kam verstärkend eine weitere Eigenschaft: eine unglaubliche Hartnäckigkeit. Der Vampir war ein ebenso unnachgiebiger Bluthund wie ein ausgesprochenes Genie, und Lucan war verdammt glücklich, ihn auf seiner Seite zu haben. „Wenn du sie nicht auftreiben kannst, Gideon, dann kann es niemand.“
Unter seinem Schopf aus kurzem, stacheligem blondem Haar zeigte der Computerguru des Stammes ein großspuriges, selbstsicheres Grinsen. „Und das ist der Grund, warum ich die große Kohle verdiene.“
„Ja, so was in der Art“, meinte Lucan und riss sich von den unaufhörlich weiterlaufenden Abfragen auf dem Bildschirm los.
Keiner der Stammeskrieger, die sich dazu verpflichteten, das Volk vor der Geißel der Rogues zu beschützen, tat das, weil er irgendeine Art von Belohnung dafür erhielt. Das hatte es noch nie gegeben, in der ganzen Zeit von der Gründung ihres Bündnisses – etwa zurzeit des Mittelalters der Menschen – bis heute nicht. Jeder Krieger hatte seine Gründe, sich in diese Gefahr zu begeben – zugegebenermaßen waren einige von ihnen edler als andere. Gideon zum Beispiel hatte sich, nachdem die Rogues seine Zwillingsbrüder, beinahe noch Kinder, außerhalb des Dunklen Hafens von London getötet hatten, als Einzelgänger auf die Jagd nach den Rogues gemacht, bis er auf Lucan getroffen war. Das war nun drei Jahrhunderte her, vielleicht einige Jahrzehnte mehr oder weniger.
Auch seine Fähigkeiten im Umgang mit dem Schwert waren damals außergewöhnlich, wurden nur übertroffen von seinem messerscharfen Verstand. Er hatte zahlreiche Rogues zur Strecke gebracht, doch gab er später seiner Stammesgefährtin Savannah zuliebe den direkten Kampf Mann gegen Mann auf und widmete sich fortan der technischen Seite des Kampfes gegen die Rogues.
Und der Vampir war verdammt gut darin.
Jeder der sechs Krieger, die aktuell an Lucans Seite kämpften, verfügte über seine ganz eigenen persönlichen Talente. Auch hatte jeder von ihnen mit seinen eigenen persönlichen Dämonen zu kämpfen, auch wenn niemand von ihnen übertrieben emotional war. Einige Angelegenheiten blieben einfach besser im Dunkeln. Derjenige unter ihnen, der wahrscheinlich noch mehr so empfand als Lucan selbst, war Dante.
Lucan bemerkte den jungen Vampir, als er aus einem der zahlreichen Zimmer des Hauptquartiers ins Techniklabor kam. Dante war mit seiner üblichen einfachen schwarzen Montur bekleidet, einem Motorradoutfit aus Leder und einem passenden Trägerhemd, das seine auffälligen, farbigen Tätowierungen und Symbole des Stammes zur Schau stellte. Sein beeindruckender Bizeps war rundherum mit komplizierten Bildern bedeckt, die für menschliche Augen seltsam abstrakt wirken würden, eine Reihe aus ineinander verwobenen Symbolen und geometrischen Mustern aus dunklen Hennafarben. Vampiraugen würden die Symbole als das sehen, was sie in Wirklichkeit auch waren:
Normalerweise waren