Sie hatte auch Eva getroffen, die genauso war, wie Savannah gesagt hatte. Rios Stammesgefährtin, temperamentvoll, charmant und so schön wie ein Mannequin, hatte darauf bestanden, alles über Gabrielle und ihr Leben an der Oberfläche zu erfahren. Eva stammte aus Spanien und sprach davon, dass sie eines Tages mit Rio dahin zurückkehren wollte, wo die beiden zur richtigen Zeit eine Familie gründen wollten. Es war eine angenehme neue Bekanntschaft, und ihr angeregtes Gespräch wurde erst durch die Ankunft von Rio unterbrochen. Sobald er eintraf, wandte Eva sich ganz ihrem Mann zu, und Savannah führte Gabrielle weiter und zeigte ihr noch andere Teile des Quartiers.
Es war beeindruckend, wie riesengroß, aber dennoch durchorganisiert dieser Ort war. Wenn Gabrielle je die Vorstellung gehabt hatte, dass Vampire in höhlenartigen, muffigen, alten Grüften lebten, so waren alle solchen Bilder wie weggeblasen, nachdem Gabrielle und Savannah ihren Bummel beendet hatten.
Die Krieger und ihre Partnerinnen lebten hochmodern inmitten von Hightech-Ausstattung und verfügten praktisch über jede Art von Luxus, den man sich nur wünschen konnte. Aber am allermeisten faszinierte Gabrielle der Raum, in dem sie und Savannah sich nun aufhielten. Bücherschränke, die vom Boden bis zur Decke reichten, waren in die hohen Wände des Zimmers eingelassen, wobei das glänzende dunkle Holz gut und gern Tausende von Büchern enthielt. Zweifellos handelte es sich bei den meisten um seltene Ausgaben. Aufwendig gepunzte Ledereinbände säumten die Mehrzahl der Borde, und das sanfte Licht der Bibliothek ließ die goldenen Einlegearbeiten auf ihren Rücken schimmern.
„Wow“, keuchte Gabrielle. Sie stand in der Mitte des Raumes und drehte sich, um die unglaubliche Büchersammlung zu bewundern.
„Gefällt es Ihnen?“, fragte Savannah, die im Türeingang stehen geblieben war.
Gabrielle nickte nur. Sie war zu sehr damit beschäftigt, das alles aufzunehmen, um zu sprechen. Als sie sich umdrehte, blieb ihr Blick an einem großartigen Wandteppich hängen, der die Rückwand bedeckte. Es handelte sich um eine nächtliche Darstellung von einem riesigen Ritter in schwarzer Kleidung mit einem silbernen Kettenhemd, der auf einem dunklen, sich aufbäumenden Pferd saß. Der Kopf des Ritters war unbedeckt, sodass sein langes, ebenholzschwarzes Haar frei im Wind wehen konnte wie die flatternden Wimpel an der Spitze seiner blutigen Lanze und auf der Brüstung der düsteren Burg, die im Hintergrund auf einem Hügel dräute.
Die Handarbeit war so gekonnt und präzise ausgeführt, dass Gabrielle die durchdringenden, blassgrauen Augen und die kräftigen hohen Wangenknochen des Mannes erkennen konnte. Sein zynisch, beinahe verächtlich verzogener Mund hatte etwas Vertrautes.
„O mein Gott“, murmelte sie. „Ist das etwa –“
Savannah antwortete mit einem Achselzucken und einem amüsierten kleinen Lachen. „Möchten Sie eine Weile hier bleiben? Ich muss nach Danika sehen, aber das bedeutet nicht, dass Sie gehen müssen, wenn Sie lieber –“
„Soll das ein Scherz sein? Klar. Ja. Es würde mir wahnsinnig gut gefallen, hier eine Weile zu bleiben. Bitte, lassen Sie sich Zeit, und machen Sie sich keine Gedanken um mich.“
Savannah lächelte. „Ich komme bald wieder, dann können wir uns darum kümmern, ein Gästezimmer für Sie herzurichten.“
„Vielen Dank“, entgegnete Gabrielle, die es überhaupt nicht eilig hatte, dieses unerwartete Refugium zu verlassen.
Als die andere Frau verschwunden war, wusste Gabrielle nicht, was sie sich zuerst ansehen sollte: die Literaturgoldgrube oder das mittelalterliche Kunstwerk mit Lucan Thorne in der Hauptrolle, das aussah, als stammte es etwa aus dem vierzehnten Jahrhundert.
Beides, entschied sie. Sie zog einen wunderschönen Band französischer Dichtung – vermutlich eine Erstausgabe – aus dem Regal und nahm ihn mit zu einem ledernen alten Lesesessel, der unter dem Wandteppich aufgestellt war. Das Buch legte sie auf einen zierlichen antiken Tisch. Dann konnte sie nicht anders, als minutenlang zu Lucans Abbild hinaufzustarren, das so meisterhaft in die Seidenfäden eingewoben war. Sie streckte die Hand aus, aber sie wagte nicht, das Kunstwerk zu berühren, das Museumsqualität besaß.
Die ganze Zeit hatten diese Leute neben der menschlichen Welt existiert.
Und wie klein sich ihre eigene Welt angesichts dieses neuen Wissens anfühlte. Alles, was sie über das Leben zu wissen geglaubt hatte, war in wenigen Stunden durch die lange Geschichte von Lucan und dem Rest seiner Art in den Schatten gestellt worden.