Chase fluchte ausgiebig. „Ich musste den Menschen gehen lassen. Ich hatte keine Wahl.“
„Falsche Antwort“, knurrte Dante wütend und setzte Chase seine höllische Klinge unters Kinn.
„Eingesperrt in eurem Quartier nützt mir der Crimson-Dealer nichts. Ich brauche ihn auf der Straße. Er muss mir jemanden suchen helfen – meinen Neffen. Ich habe ihn gehen lassen, damit er mir hilft, Camden zu finden, den Sohn meines Bruders.“
Dante blickte finster drein, aber die Klinge senkte sich ein wenig.
„Was ist mit den anderen, die verschwunden sind? Hat Sullivan alle diese Kids mit seinen Drogen gefüttert?“
„Ich kümmere mich darum, Camden zurückzubekommen. Er war vom ersten Tag an meine eigentliche Mission.“
„Du hast uns belogen, Mistkerl“, zischte der Krieger.
Chase begegnete dem anklagenden, wütenden Blick. „Hätte der Orden mich denn unterstützt, wenn ich eure Hilfe erbeten hätte, um einen vermissten Jugendlichen aus dem Dunklen Hafen zu finden?“
Dante fluchte, leise und zornig. „Das wirst du nie wissen, oder?“
Chase durchdachte es erneut. Er begann einiges vom Kodex der Krieger zu verstehen. Er hatte aus erster Hand erfahren, dass sie beiliebe nicht ohne Ehre waren. Ihre rücksichtslosen Methoden und ihr kämpferisches Können machten sie zu einer geheimnisvollen und tödlichen Macht – innerhalb des Stammes und sogar unter der Menschheit. Wenn es erforderlich war, konnten sie gnadenlose Mörder sein. Dennoch ahnte Chase, dass jeder Einzelne von ihnen im Herzen ein besserer Mann war als er selbst.
Dante gab ihn abrupt frei und ging hinüber zu dem Range Rover. Tegan ließ Elise ebenfalls los, hielt aber seinen harten grünen Blick weiter auf sie gerichtet, als sie ängstlich von ihm wegtaumelte und sich die Stelle rieb, wo er sie berührt hatte.
„Steig in den Wagen, Harvard“, forderte Dante ihn auf. Er deutete auf die offene hintere Tür. Ein Blick sagte Chase deutlich, dass der Teufel los wäre, wenn er nicht kooperierte. „Wir fahren zurück zum Quartier. Vielleicht kannst du Lucan überzeugen, dass wir dich am Leben lassen.“
Kalter Schweiß rann von Ben Sullivans Nacken herab, als er die erste Probe der neuen Crimsonproduktion fertiggestellt hatte. Er hatte nicht gelogen, als er sagte, er hätte die Formel nicht im Kopf. Er gab sein Bestes, um die Droge in der absurd kurzen Zeit, die man ihm zugestanden hatte, neu zu entwickeln. Eine knappe halbe Stunde vor Ablauf des Ultimatums sammelte er eine Dosis der rötlichen Substanz und trug sie hinüber zu seiner Testperson. Der junge Mann in den schmutzigen Jeans und dem Harvard-Sweatshirt hing kraftlos in den Fesseln, die ihn auf einem Bürostuhl hielten. Sein Kopf war tief gebeugt, das Kinn auf die Brust gesunken.
Als Ben auf ihn zuging, öffnete sich die Tür des behelfsmäßigen Kellerlabors, und sein dunkler Auftraggeber trat ein. Er blieb zwischen den beiden bewaffneten Wachen stehen, die die ganze Zeit über seine Fortschritte beaufsichtigt hatten.
„Ich hatte keine Gelegenheit, die Feuchtigkeit aus dem Zeug zu filtern“, entschuldigte sich Ben für den Becher mit der zähflüssigen Schmiere, die er hergestellt hatte. Er betete, dass er das Rezept richtig hinbekommen hatte. „Dieser Bursche ist nicht gerade in bester Verfassung. Was ist, wenn er es nicht schlucken kann?“
Es gab keine Antwort, nur abwägendes, tödliches Schweigen.
Ben stieß nervös die Luft aus, näherte sich dem jungen Mann und ging vor dem Stuhl in die Hocke. Unter den Strähnen seiner ungekämmten Haare öffneten sich kraftlose Augen zu schmalen Schlitzen und schlossen sich wieder. Ben starrte in das verzerrte, blasse Gesicht. Ein Häufchen Elend, das wahrscheinlich einmal ein gut aussehender junger Mann gewesen war …
O … Scheiße.
Er kannte den Jungen, kannte ihn aus der Clubszene. Ein ordentlicher, regelmäßiger Kunde. Und im Übrigen auch genau das lächelnde, jugendliche Gesicht, das er letzte Nacht auf einem Foto gesehen hatte. Cameron? Oder Camden? Camden! Der Bursche, den Ben für den Irren mit den Fangzähnen aufspüren sollte – für den Mann, der versprochen hatte ihn zu töten, wenn er nicht mitspielte. Nicht dass diese Drohung wesentlich schlimmer war als die, der er sich jetzt gegenübersah.
„Lassen Sie uns weitermachen, Mr. Sullivan.“
Ben löffelte etwas von dem rohen Crimson aus dem Becher und hielt es dem Jungen an den Mund. Sowie die Substanz seine Lippen berührte, schoss die Zunge schlangenartig hervor. Er schloss seinen Mund um den Löffel und lutschte ihn sauber. Für einen Moment schienen seine Lebensgeister wieder geweckt. Ein angefütterter Junkie, dessen einzige Hoffnung der nächste Schuss war, wurde Ben klar, und ein nagendes Schuldgefühl peinigte ihn.
Ben wartete, dass die verheerende Wirkung von Crimson einsetzte.
Nichts geschah.
Er gab Camden mehr, und dann noch ein bisschen mehr. Immer noch nichts. Verdammt. Die Rezeptur stimmte nicht.
„Ich brauche mehr Zeit“, murmelte Ben, als der Kopf des Jungen mit einem Stöhnen schlaff nach hinten fiel. „Ich hab’s fast, ich muss es bloß noch mal versuchen.“